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04. Juni 2023, von Michael Schöfer
Düstere Aussichten


Im Jahr 1910 veröffentlichte der britische Schriftsteller Norman Angell sein Buch "The Great Illusion", in dem er die durchaus einleuchtende These vertrat, dass ein Krieg zwischen modernen Nationen wegen der gegenseitigen wirtschaftlichen Abhängigkeit unmöglich und sinnlos sei, weil Sieger und Besiegte daraus gleichermaßen als Verlierer hervorgehen würden. Die unvermeidlichen Folgen, eine kommerzielle Katastrophe und der finanzielle Ruin, hätten genug abschreckende Wirkung, um einen solchen Wahnsinn zu verhindern. [1] Der Bestseller wurde in elf Sprachen übersetzt und fand große Beachtung. 1914 begann dann der Erste Weltkrieg, der 9 Millionen Soldaten das Leben kostete und starke ökonomische Verwerfungen nach sich zog. Die Abschreckung versagte, das Irrationale siegte über die Vernunft.

Heute wird ähnlich argumentiert: China könne sich keinen Krieg um Taiwan leisten, weil die gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit zwischen dem Reich der Mitte und dem Westen viel zu groß sei. Der Westen sei abhängig von den chinesischen Produktionskapazitäten, China wiederum von den Absatzmärkten in den USA und Europa. Ein Krieg würde die Weltwirtschaft stark beeinträchtigen und schwere ökonomische Verwerfungen nach sich ziehen. Doch genauso wenig wie die gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit den Ersten Weltkrieg verhindert hat, ist sie eine Garantie für den Frieden in Asien. Einen Krieg in Europa haben viele für unmöglich gehalten, dennoch findet er gerade in der Ukraine statt. Ideologen wie Putin handeln eben oft unvernünftig.

Zwar gibt es nach wie vor Unternehmen, wie etwa die BASF in Ludwigshafen, die stark in China investieren, inzwischen sind jedoch die meisten angesichts der aggressiven Rhetorik Pekings, den militärischen Drohgebärden, der Reideologisierung unter Xi Jinping und den völkerrechtswidrigen Territorialansprüchen im Südchinesischen Meer nachdenklich geworden. Derzeit wird im Westen viel über Entkopplung gesprochen. Völlig zu Recht, denn China stellt für die westliche Wirtschaft ein ausgeprägtes Klumpenrisiko dar. Und wir haben ja bei Russland gesehen, wohin Illusionen führen. Hoffentlich ist es noch nicht zu spät, um den Schaden zu begrenzen, denn viele Beobachter gehen mittlerweile davon aus, dass China Taiwan angreifen wird. Es gehe nicht um das Ob, sondern lediglich um das Wann. In der Tat düstere Aussichten.

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[1] Ekkehart Krippendorff, Staat und Krieg, Frankfurt a. M. 1985, Seite 165f