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08. Juni 2023, von Michael Schöfer
Neutralität widerspricht europäischen Interessen


Das Image der Schweiz bröckelt, und das ist nicht zuletzt auf die strikte Neutralität des Landes beim Krieg in der Ukraine zurückzuführen. Bekanntlich schließen die Eidgenossen bis dato sogar die Lieferung von Waffen und Munition durch Partnerstaaten an die von Russland angegriffene Ukraine aus, sofern diese in der Schweiz produziert wurden. "Der Nationalrat hat am Donnerstag eine parlamentarische Initiative abgelehnt, welche die Wiederausfuhren von Schweizer Kriegsmaterial an die Ukraine ermöglichen wollte. (…) Gegenwärtig sind 12.400 Schuss 35-mm-Munition für den Fliegerabwehrpanzer Gepard aus Schweizer Produktion blockiert, die Deutschland gerne an die Ukraine liefern würde", berichtete vor kurzem die Neue Zürcher Zeitung. [1]

Das ist insbesondere für die Schweizer Rüstungsindustrie (Exportvolumen 2022: 955 Mio. Franken = z.Z. 984 Mio. Euro) eine schlechte Botschaft, denn womöglich werden viele namhafte Kunden Schweizer Waffen künftig meiden (die Nato-Staaten Dänemark und Deutschland standen bei den Abnehmern auf Platz zwei und drei). [2] Wer völkerrechtswidrig angegriffen wird, sollte jedenfalls nicht auf Schweizer Hilfe hoffen. Die Eidgenossen erforschen regelmäßig die Wahrnehmung ihres Landes jenseits der Grenzen, und mit Blick auf die Neutralität ist in Deutschland der Zustimmungswert zur Aussage "Die Neutralität der Schweiz ist etwas Positives" zwischen 2020 und 2022 von 4,1 auf 3,9 Punkte gesunken. [3] In den USA und in Großbritannien ist ebenfalls ein leichter Imageverlust wahrnehmbar. Zumindest ein erstes Warnsignal. Bei Politikern und Diplomaten soll die Irritation über das Verhalten der Schweiz schon wesentlich ausgeprägter sein.

Die Haltung der europäischen Nato- und EU-Mitgliedstaaten in puncto Ukraine ist zum Glück größtenteils eine andere, dennoch gibt es überhaupt keinen Grund, sich selbstgefällig zurückzulehnen. Das Völkerrecht wird nämlich nicht nur durch Russland ignoriert, auch die Volksrepublik China rasselt im Südchinesischen Meer und gegenüber Taiwan ordentlich mit den Säbeln. Es droht ein militärischer Konflikt mit den USA. Die Haltung der Europäer ist allerdings reichlich indifferent, wie eine Umfrage des European Council on Foreign Relations (Europäischer Rat für Auswärtige Beziehungen) ergeben hat. Der ECFR ist eine spendenfinanzierte paneuropäische Denkfabrik. Die Ansichten der Europäer darüber, wie ihr Land auf den möglichen Konflikt zwischen den USA und China wegen Taiwan reagieren sollte, sind ernüchternd: Im Schnitt sind in 11 EU-Staaten (Österreich, Bulgarien, Dänemark, Frankreich, Deutschland, Ungarn, Italien, Niederlande, Polen, Spanien, Schweden) lediglich 23 Prozent der Befragten der Meinung, die Europäer sollten die USA unterstützen, im Gegensatz dazu sprechen sich satte 62 Prozent für eine Neutralität aus. [4]

Dass man nicht gerne in einen Konflikt mit der Volksrepublik China hineingezogen werden möchte, ist absolut verständlich. Aber angesichts der unzureichenden europäischen Kapazitäten dürfte es hierbei im Wesentlichen nicht um militärischen Beistand in Asien gehen, sondern vielmehr um die notwendige ökonomische Rückendeckung. Beim Warenverkehr war China 2021 mit 16,2 Prozent der wichtigste Handelspartner der EU (noch vor den USA mit 14,7 %). [5] Einerseits würden Sanktionen die EU natürlich hart treffen (Stichwort: Lieferketten), andererseits ist die Volksrepublik vielleicht in noch viel stärkerem Maße auf die westlichen Absatzmärkte angewiesen. [6] In dieser Auseinandersetzung nicht an der Seite der Vereinigten Staaten zu stehen, wäre ein schwerer Fehler und könnte am Ende das westliche Bündnis zerrütten, das nach wie vor die europäische Sicherheit garantiert. Hinweis: Russland wird selbst bei einer Niederlage in der Ukraine nicht spurlos von der Landkarte verschwinden. Und der Isolationismus hat in Amerika noch immer zahlreiche Anhänger.

Mich hat diese Umfrage schockiert. Die USA haben im Ersten und im Zweiten Weltkrieg unter hohen Verlusten die Freiheit verteidigt (WKI: 117.000 gefallene US-Soldaten, WKII: 407.316 gefallene US-Soldaten), indem sie in Europa militärisch zugunsten der angegriffenen Demokratien intervenierten. Sie sind zudem mit großem Abstand der stärkste Unterstützer der ums Überleben kämpfenden Ukraine, obgleich dieser Krieg bislang ausschließlich auf europäischem Boden stattfindet. Washington könnte ja durchaus sagen: Was geht uns ein Krieg in Osteuropa an?

Bei aller berechtigten Kritik am interventionistischen Verhalten der Vereinigten Staaten in der Vergangenheit (Vietnam, Irak, Lateinamerika etc.): Falls es wirklich zu einem Konflikt zwischen den demokratischen USA und dem totalitären China kommt, kann Europa nie und nimmer wie die eingangs erwähnte Schweiz neutral bleiben. Werte wie Demokratie, Völkerrecht und Menschenrechte degenerieren zu hohlen Phrasen, wenn man sich im Ernstfall vornehm zurückhält und lieber weiter lukrativen Geschäften nachgeht. Wir können doch nicht guten Gewissens eine Demokratie (Taiwan) preisgeben, bloß weil uns der Handel mit der Volksrepublik hohe Profite bringt. In einem solchen Konflikt abseits zu stehen, ist unter ethischen Gesichtspunkten völlig inakzeptabel. Eine Niederlage der USA aufgrund mangelnder Unterstützung durch die Europäer wäre verheerend, könnte die Nato ruinieren und Europa endgültig zum Spielball anderer Mächte verkommen lassen.

"Staaten haben keine Freunde, nur Interessen", hat einst Charles de Gaulle gesagt. Und es ist doch im Grunde sonnenklar, dass die von der Mehrheit der Befragten geforderte Neutralität in einem Konflikt der USA mit China unseren fundamentalen Interessen widerspricht. Europa würde sich moralisch diskreditieren und künftig in der Weltpolitik bloß noch eine untergeordnete Rolle spielen, abhängig vom Wohlwollen und der Willkür der Diktatoren andernorts. Unter Umständen steht sogar die Demokratie komplett auf dem Spiel. Ob die USA danach die Europäer bei einem Krieg noch einmal retten würden, ist obendrein höchst fraglich. Gerade hier gilt zu Recht die dringende Warnung: Was auch immer du tust, handle klug und bedenke das Ende.

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[1] NZZ-online vom 01.06.2023
[2] SRF vom 07.03.2023
[3] Schweizer Eidgenossenschaft, Imagemonitor 2020, PDF-Datei mit 1,6 MB, Seite 13 und Imagemonitor 2022, PDF-Datei mit 1,7 MB, Seite 16
[4] ECFR, Keeping America close, Russia down, and China far away: How Europeans navigate a competitive world
[5] Europäisches Parlament, Die Europäische Union und ihre Handelspartner
[6] siehe Statista, China: Wichtigste Exportländer im Jahr 2022