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10. Juni 2023, von Michael Schöfer
Was sollen wir denn noch alles schlucken?

Die meisten, zumindest die, die gelegentlich in den Ballungsräumen unterwegs sind oder dort wohnen, kennen das: Es gibt Stadtteile, in denen man sich unsicher fühlt und die man deshalb, jedenfalls nachts, besser meidet. Angsträume. Neudeutsch: No-go-Areas. Kein Problem, man kann sich ja fernhalten und woanders ausgehen. Das ist die Realität in Europa, doch die Realität außerhalb Europas ist eine viel brutalere: In den meisten Staaten fühlt man sich nicht nur unsicher, man ist es auch tatsächlich. Durch Bandenkriminalität, durch bewaffnete Privatarmeen, durch skrupellose Despoten, durch korrupte Beamte, durch den sozialdarwinistisch anmutenden Überlebenskampf in einer mafiös geordneten Wirtschaft. Und allzu oft fehlen Ausweichräume, die Gefahr lauert im Grunde überall. Die Welt da draußen ist viel schlimmer, als wir es uns im vergleichsweise wohlbehüteten Europa überhaupt vorzustellen vermögen. Die Welt ist ein schlechtes Zuhause für die Menschheit. Treffender: Die Menschen machen ein schlechtes Zuhause daraus. In der abendlichen Tagesschau bekommen wir wenigstens einen kleinen Eindruck davon. Die Betonung liegt auf "einen kleinen". Das Problem für Menschen, die das Pech hatten, dort geboren zu werden, ist jedoch riesengroß.

Viele von uns würden ebenfalls versuchen, von dort zu fliehen, um in den relativ friedlichen Wohlstandszonen einer besseren Zukunft entgegenzusehen. Entweder für sich selbst oder für die eigenen Kinder. Das ist verständlich. Und jeder, der noch ein Fünkchen Mitgefühl besitzt, muss dem zustimmen. Die Aufnahme von Entrechteten, Geschlagenen, Vergewaltigten, Gefolterten und politisch Verfolgten nennt man gemeinhin Humanität. Das gehört, so will es uns die Legende weismachen, zum Wertefundament Europas. Die unveräußerlichen Menschenrechte. Doch das gilt seit langem nur noch in eingeschränktem Maße. Und nach dem Asyl"kompromiss" dieser Woche bleibt davon so gut wie nichts mehr übrig. Die Menschenrechte werden spürbar zurechtgestutzt, an ihre Stelle tritt ein Ablasshandel (Staaten dürfen sich von jeglicher Verpflichtung freikaufen).

Dem Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) zufolge gibt es momentan (Stand Mitte 2022) weltweit mehr als 100 Millionen Vertriebene:

● 60,1 Mio. Binnenflüchtlinge (die innerhalb ihres Landes flüchten)
26,3 Mio. Flüchtlinge unter UNHCR-Mandat
5,8 Mio. Palästina-Flüchtlinge unter UNRWA-Mandat (Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten)
4,5 Mio. Asylsuchende
4,4 Mio. ins Ausland vertriebene Venezolaner
= 101,1 Mio. Menschen [1]



Tendenz: stark steigend. Die Daten des UNHCR werden fortlaufend aktualisiert, mit Stand 27.10.2022 sind dort schon 103 Millionen Menschen als Flüchtlinge erfasst. Doch davon kommt nur ein Bruchteil in Europa an: "Europa beherbergte Ende 2021, also vor Ausbruches der Krieges in der Ukraine, insgesamt rund 7 Millionen Flüchtlinge. Das größte Aufnahmeland war mit 3,8 Millionen Flüchtlingen die Türkei." [2] Ohne die Türkei bleiben für das übrige Europa 3,2 Millionen übrig, das waren Ende 2021 gerade einmal 3,6 Prozent der weltweit Geflüchteten (damals insgesamt 89,3 Mio. Menschen). Für eine der reichsten Regionen der Erde ist das natürlich eine absolut unerträgliche Belastung. (Achtung: Ironie!)

Man darf den Zustrom von Flüchtlingen und die daraus resultierende Belastung keinesfalls bagatellisieren, dennoch muss man aufgrund von harten Fakten die Maßstäbe wieder ein bisschen zurechtrücken. Es ist unbestreitbar wahr: Die reichen Industriestaaten nehmen nur eine Minderheit auf, das Gros der Flüchtlinge lebt in den ärmeren Regionen der Erde, trotzdem sind wir ständig am Jammern. Motto: Das Boot ist voll. Wie wird das erst, wenn der von den Industriestaaten (!) verursachte Klimawandel richtig durchschlägt und die Flüchtlingszahlen explodieren lässt? Was wir gegenwärtig erleben, ist im Vergleich dazu bloß ein laues Lüftchen. Aber für uns ist ja schon das generelle Tempolimit auf den Autobahnen inakzeptabel. Mit den unangenehmen Folgen unseres widersinnigen Handelns wollen wir keinesfalls belästigt werden. Hauptsache, wir können weiter mit dem SUV zum Brötchenholen fahren.

Der europäische Asyl"kompromiss" sieht streng kontrollierte Haftzentren an den EU-Außengrenzen und Schnellverfahren über die Asylbegehren vor. Wie das aussehen könnte, war im Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos zu besichtigen. Mit einem Wort: menschenverachtend. Das will man selbstverständlich nicht, beteuert die EU. Was man halt so sagt, wenn man dem Wahlvolk etwas schmackhaft machen will. Als der frühere Bundesinnenminister Horst Seehofer Asylzentren an den EU-Außengrenzen einführen wollte, waren SPD und Grüne dagegen. "Die SPD-Bundestagsfraktion hat sich gegen Pläne von Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) für eine Reform des europäischen Asylsystems gestellt. 'Wir wollen keine 'Massenlager' an den EU-Außengrenzen, wie wir sie heute bereits haben', heißt es in dem Positionspapier, das die SPD-Fraktion beschloss. Stattdessen solle es in der EU 'offene' Zentren zur Behandlung von Asylanträgen geben, die 'nicht zwingend an den EU-Außengrenzen liegen müssen'." [3] Alle Asylsuchenden müssten ein faires Verfahren in der EU erhalten.

"Wir treten für eine Europäische Union ein, die ihre humanitäre und rechtliche Verpflichtung, den Zugang zum Grundrecht auf Asyl zu garantieren, und die Notwendigkeit, Verfahren nach völkerrechtlichen Standards fair und zügig durchzuführen, einhält", bekundeten die Grünen in ihrem Bundestagswahlprogramm 2021. "In gemeinschaftlichen von den europäischen Institutionen geführten Registrierungszentren in den EU-Staaten mit rechtsstaatlich und europäisch kontrollierten Außengrenzen sollen die Geflüchteten registriert werden und einen ersten Check durchlaufen, ob Einträge in sicherheitsrelevanten Datenbanken vorliegen. (…) Das Asylverfahren findet dann im aufnehmenden Mitgliedstaat statt. Vorgezogene Asylverfahrensprüfungen an den Außengrenzen sind damit nicht vereinbar. (...) Menschenunwürdige Lager und geschlossene Einrichtungen, Transitzonen oder europäische Außenlager in Drittstaaten lehnen wir ab." [4]

Genau das Gegenteil wollen uns nun führende Grüne als akzeptablen "Kompromiss" verkaufen. Dabei sind die gravierenden Einwände keineswegs ausgeräumt. Ob in den Haftlagern ein faires Verfahren überhaupt möglich ist, darf bezweifelt werden. Schon allein der Zugang zu Rechtsanwälten dürfte sich als schwierig erweisen, denn deren Anzahl und Arbeitskapazität ist vor Ort naturgemäß begrenzt. Rechtliches Gehör, ein sachkundiger und ordnungsgemäß arbeitender Rechtsbeistand gehören aber zu den - auch von der EU anerkannten - Menschenrechten. Welches Recht wird dort konkret angewandt? Jeweils das nationale oder gibt es eine einheitliche Rechtsauslegung? Bislang unklar! Kann eine sorgfältige Entscheidung in zwölfwöchigen Schnellverfahren garantiert werden? Wohl kaum! Entspricht die Inhaftierung von Kindern der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen? Die Grünen sagen de facto: Zwar höchst unerfreulich, aber leider nicht zu ändern. Doch wir bemühen uns… Im Zweifelsfall egal. Wie sieht es in den Haftlagern mit dem Zugang von Hilfsorganisationen und Pressevertretern aus? Ebenfalls offen! Von der Verpflegung, der Ausstattung der sanitären Anlagen etc. ganz zu schweigen. Moria lässt grüßen! Abschiebung in unsichere Drittstaaten? Nein, nein, laut EU sind sie ja sicher. Also im Zweifelsfall genauso egal. Argh!

Dennoch verteidigen Annalena Baerbock, Robert Habeck und Co-Parteichef Omid Nouripour den "Kompromiss", halten ihn sogar mit Blick auf die europäische Einigung für notwendig. Faktisch machen sie jetzt das, was sie noch vor kurzem strikt ablehnten - Horst Seehofers rigide Asylpolitik verwirklichen. Haben wir sie 2021 dafür gewählt? Man darf von der Ampelregierung im Allgemeinen und von den Grünen im Besonderen enttäuscht sein. Dass die Umweltpartei der Aufweichung des Klimaschutzgesetzes zugestimmt hat und jetzt auch noch das Asylrecht zurechtstutzt, ist in meinen Augen unerträglich. Da stellt sich unweigerlich die Frage: Was sollen Grünen-Wähler eigentlich noch alles schlucken? Das ist nämlich kein fauler "Kompromiss", das Ganze stinkt vielmehr gewaltig zum Himmel. Die Grundwerte verkommen mittlerweile selbst bei den Grünen zu hohlen Phrasen - in Sonntagsreden nett anzuhören und mit gespielter Entschiedenheit vorgetragen, wenn es darauf ankommt allerdings verzichtbar.

Wenig verwunderlich, dass mir an dieser Stelle der Maler Max Liebermann einfällt: "Ich kann nicht so viel fressen, wie ich kotzen möchte." Etwas feiner formuliert: Wozu sind die Grünen in der Regierung? Die Antwort gebe ich mir selbst: Bestimmt um Schlimmeres zu verhindern. Das wohlbekannte "kleinere Übel". Ob sich die Wählerinnen und Wähler dadurch lange begeistern lassen? Wir werden sehen.

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[1] UNHCR, Refugee Data Finder, More than 100 million people are forcibly displaced, Datenstand: 09.06.2022
[2] UNHCR, Über uns, Wo wir tätig sind, Europa
[3] Die Zeit-online vom 16.06.2020
[4] Die Grünen, Bundestagswahlprogramm 2021, PDF-Datei mit 1,1 MB, Seite 238f