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13. Juni 2023, von Michael Schöfer
Was ist der Unterschied zwischen Kassandra und Söder?

"Jetzt ist der Punkt erreicht, wo endlich die schweigende große Mehrheit dieses Landes sich die Demokratie wieder zurückholen muss", hat Hubert Aiwanger, bayerischer Wirtschaftsminister und Vize-Ministerpräsident, auf einer Demonstration in Erding gesagt. [1] Ei, ei, war die Demokratie denn weg? Nur kurz oder schon länger? Die Bundestagswahl 2021 gefälscht, die Ampelregierung illegal im Amt, Olaf Scholz ein Usurpator und das Bundesverfassungsgericht im Kerker?

Nichts von alledem, in Bayern wird bloß wieder gewählt. Das erklärt zwar vieles, aber leider nicht alles. Vor allem nicht die Dummheit konservativer Politiker. Wenn ein demokratisch gewählter Minister die Demokratie verächtlich macht, spielt er mit dem Feuer. Und das ging bekanntlich selten gut. Es bleibt Aiwanger selbstverständlich unbenommen, die Politik der Ampelregierung schlimm zu finden, doch über die Zusammensetzung des Bundestages, der dann den Bundeskanzler wählt, bestimmen immer noch die Bürgerinnen und Bürger. Am Wahltag. Steht halt so in der Verfassung - völlig unbeeindruckt davon, wie laut der Populist auf dem Volksfestplatz in Erding herumkrakeelen mag. Andere sind freilich keinen Deut besser.

2018 hielt es ein gewisser Markus Söder für angebracht, kurz vor der bayerischen Landtagswahl das Asylthema hochzukochen. Ergebnis: CSU -10,5 Prozentpunkte, AfD +10,2 Prozentpunkte. Der Schuss ging also nach hinten los, aber der Markus spielt trotz allem unbeirrt mit der gleichen verrosteten Flinte Cowboy und Indianer. Nun hat er vor allem die Grünen im Visier und prophezeit den Staatsruin. Darunter macht er's ja nicht. "Entweder gehen die Bürger oder der Staat in den Ruin: Ich hab keine Lust Seite an Seite mit den Grünen in die Pleite zu gehen." [2] Je schlimmer der Schurke, desto grandioser erscheint Old Shatterhand. Aber wie wir 2018 gesehen haben, schießt sich sogar der gelegentlich selbst ins Knie.

Doch wir müssen gar nicht so weit zurückgehen: Vor knapp einem Jahr sah Söder ebenfalls den Untergang nahen: "Es ziehen dunkle Wolken über Deutschland auf." Oh Schreck, oh Graus! Die Schuld sah er natürlich nicht bei den von Putin gestoppten Gaslieferungen, sondern ausschließlich bei der Ampelregierung: "'Wenn es am Ende zu einem Gasstillstand und zu einem Blackout kommt, trägt allein die Bundesregierung die Verantwortung.' Klartext: Der Ministerpräsident fürchtet, die Deutschen könnten im äußersten Fall nicht nur in ungeheizten Wohnungen sitzen, sondern müssen auch noch Kerzen anzünden, um überhaupt Licht zu haben …" [3] Und das von einem, in dessen Beritt 2022 ganze 14 Windkraftanlagen ans Netz gingen. Was dann trotz der widrigen Umstände ausblieb, war der prophezeite Gasnotstand und der Blackout. Dank der besonnenen Politik der Bundesregierung musste auch niemand - außer vielleicht an Weihnachten - Kerzen anzünden.

Der fundamentale Unterschied zwischen Kassandra und Söder ist: Kassandras Prophezeiungen trafen ein, aber niemand wollte ihr glauben. Stimmt, da war was, Troja und das hölzerne Pferd beispielsweise. Der bayerische Ministerpräsident malt zwar ständig den Teufel an die Wand, Luzifer hat dann allerdings immer etwas anderes zu tun und will einfach nicht kommen. Trotzdem scheinen ihm die bayerischen Wählerinnen und Wähler zu glauben, denn zumindest in den Umfragen erzielt die CSU momentan satte 41 Prozent. Warum wundern sich eigentlich unsere Politiker über das vergiftete politische Klima, sie tragen ja selbst ziemlich viel dazu bei? Sich über Hass und Hetze im Netz beklagen, aber auf den Marktplätzen oder in den Bierzelten der Republik ordentlich zündeln. Man muss keine Kassandra sein, um deswegen Gefahr für die Demokratie zu prophezeien.

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[1] Die Welt-online vom 12.06.2023
[2] Merkur vom 11.06.2023
[3] BILD vom 09.07.2022