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| Impressum 16. Juni 2023, von Michael Schöfer Der CDU kann man nicht vertrauen Die CDU ist wirklich das Paradebeispiel für gnadenlosen Opportunismus. So forderte sie Mitte 2022: "Die Erneuerbaren als Heimatenergien müssen turbomäßig ausgebaut werden - für den Klimaschutz und für mehr Unabhängigkeit." [1] In der Opposition darf man selbstverständlich weitreichende Forderungen stellen. Muss es sogar. Die CDU kann allerdings nicht plausibel erklären, warum sie in ihrer Regierungszeit, die bekanntlich erst 2021 endete, die Erneuerbaren nicht selbst "turbomäßig", sondern bloß verhalten ausgebaut hat. Und mit dem Klimaschutz war es unter Angela Merkel, trotz ihres - faktisch unzutreffenden - Images als "Klimakanzlerin", ebenfalls nicht weit her. Jetzt plötzlich das zu fordern, was man selbst jahrelang versäumt hat, ist total unglaubwürdig. Schlichtweg deppert. Es klingt beinahe wie Realsatire: "...gerade Privatgebäude können beim Ausbau der Erneuerbaren in mehrfacher Hinsicht einen wichtigen Beitrag bei der Energiewende leisten, beispielsweise als Standort von Photovoltaikanlagen. Hierfür müssen alle Hindernisse abgebaut und neue Anreize geschaffen werden, um die gesamten Dachflächenpotenziale auf Wohngebäuden voll auszunutzen. Genauso müssen Mieterstrom-, Gewerbegebiets- und Bürgerenergiemodelle ihre Potenziale voll entfalten können. Lokale Bürgerenergiegesellschaften können einen wesentlichen Anteil des für alle Sektoren notwendigen Stroms aus erneuerbaren Energien dezentral produzieren, speichern und idealerweise sektorengekoppelt verbrauchen", heißt es im Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. "Die Erfahrungen aus der Praxis zeigen, dass bürokratische Hürden ein wesentliches Hemmnis für die Entscheidung darstellen, beispielsweise eine Photovoltaikanlage auf privaten und gewerblichen Gebäuden zu installieren." [2] Da hat die Union nicht einmal unrecht, genau diesen Vorwurf erheben auch die Umweltverbände schon seit langem, dass der schnelle Ausbau der Erneuerbaren durch unnötige bürokratische Hürden behindert wird. Was die CDU freilich verschweigt ist, dass sich die Umweltverbände über die Politik der CDU-geführten Bundesregierungen beklagt haben. Die "bürokratische Hürden", die die CDU nun lautstark anprangert, hat sie nämlich selbst geschaffen. Peter Altmaier lässt grüßen. Das dürfte auf viele Wählerinnen und Wähler unehrlich wirken (was es im Grunde auch ist). Doch die CDU lernt einfach nicht dazu. Die AfD ist gerade im Umfragehoch, und die CDU macht sich Gedanken darüber, warum sie vom Umfragetief der Ampelkoalition nicht stärker profitiert. Friedrich Merz will die nächste Bundestagswahl gewinnen und hat deswegen die Familienpolitik sowie den Kampf gegen die Kinderarmut entdeckt. "Neben der Unterstützung für die klassische Familie will sie verstärkt Alleinerziehenden, sozial schwachen Familien und Familien mit Migrationsgeschichte ein Angebot machen. 'Wer soll das denn machen, sich um Familien und Kinder zu mühen, wenn nicht wir, die wir ein 'C' im Namen tragen?'", sagte Merz auf dem Kleinen CDU-Parteitag. [3] Ausgerechnet die CDU? Vollkommen unglaubwürdig! Wir erinnern uns: 2016 wollte die damalige Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) das Elterngeld zu einem Familiengeld ausbauen, die CDU spielte jedoch nicht mit. "Die CDU/CSU-Fraktion (...) scheut die zusätzlichen Ausgaben, die mit dem Familiengeld und dem erweiterten Unterhaltsvorschuss verbunden wären. Die Unionsabgeordnete Nadine Schön sagte, es sei 'unseriös', den Familien weitere finanzielle Versprechungen zu machen, die nicht finanziert werden könnten." [4] Auch die CSU lehnte "den Vorschlag der Familienministerin Manuela Schwesig (SPD) für ein neues Familiengeld strikt ab". [5] Bei der Union sind die Interessen von Bedürftigen oft nachrangig. Als die Grünen im gleichen Jahr beantragten, die Regelsätze für Kinder und Erwachsene in der Grundsicherung zu erhöhen, erlebten wir das gleiche Spiel. "Angesichts dessen, dass rund 3,5 Millionen Kinder in Deutschland in von Armut bedrohten Familien lebten, bestehe dringender Handlungsbedarf", argumentierten die Grünen. Die CDU indes bezeichnete den Vorstoß der Grünen als "Wahlkampfantrag" und lehnte ihn kurzerhand ab. [6] Wenn die CDU seinerzeit geahnt hätte, dass sie sieben Jahre später zähneknirschend eine Wende um 180 Grad hinlegen muss, hätte sie womöglich das Soziale nicht so leichtfertig vom Tisch gewischt. Man hat den Eindruck, dass es Friedrich Merz weniger um die Familien und Kinder geht, sondern lediglich um genügend Wählerstimmen, damit die CDU 2025 wieder den Bundeskanzler stellen darf. Die Erwartungen könnten nicht gegensätzlicher sein: Das Wahlvolk glaubt für gewöhnlich, dass die Parteien Sachpunkte beschließen, von denen sie überzeugt sind und die sie anschließend dem Wähler präsentieren. Motto: Das sind unsere Werte, wählt uns oder lasst es bleiben. Die CDU erweckt allerdings den Eindruck, dass sie bloß das beschließt, wovon sie sich aktuell am meisten Wählerzuspruch verspricht. Plakativ, d.h. ohne innere Überzeugung, also nur dem Anschein nach. Politiker ticken eben völlig anders. Offenkundig - siehe oben - gehören eine sozialere Familienpolitik und der Kampf gegen die Kinderarmut nicht gerade zu den Prioritäten der CDU. Das "C" im Namen hin oder her. Was sie anschließend, sollte sie die Bundestagswahl gewinnen, tatsächlich umsetzt, steht daher in den Sternen. Allzu großes Vertrauen sollte man jedenfalls nicht haben. Die Menschen erwarten von der Union auch nichts anderes. Die Konservativen konterkarieren nämlich schon seit langem durch ihr konkretes Handeln die von ihnen propagierten Werte. So halten sie etwa die klassische Kleinfamilie in Ehren, bringen diese aber zugleich durch ihre unsoziale Wirtschaftspolitik in arge Bedrängnis. Die klassische Kleinfamilie, der Vater geht als Hauptverdiener tagtäglich zur Arbeit, die Mutter kümmert sich währenddessen zu Hause um die Erziehung der Kinder und verdient allenfalls in Teilzeit etwas dazu, können sich mittlerweile nur noch Besserverdienende leisten. (Ganz abgesehen von der Frage, wie viele sich - unabhängig vom Einkommen - überhaupt noch für dieses traditionelle Rollenverständnis begeistern können. Die Jüngeren sicherlich weniger.) Nehmen wir zum Beispiel die Regierungsjahre Helmut Kohls, in den ersten zehn Jahren seiner Regierungszeit stiegen die Nettorealverdienste der Arbeitnehmer bloß um 7,8 Prozent (von 15.598 DM im Jahr 1982 auf 16.816 DM im Jahr 1991), nach der Wiedervereinigung bis zu seiner Abwahl sanken sie sogar um 3,7 Prozent (von 18.557 DM im Jahr 1991 auf 17.869 DM im Jahr 1998). [7] Die Reallohnentwicklung war auch in der Regierungszeit von Angela Merkel bescheiden, zwischen 2007 und 2021 stieg der Reallohnindex nur um 11,8 Prozent. [8] Gleichzeitig brach durch eine Änderung der Wohnungsbaupolitik die Anzahl der fertiggestellten Wohnungen ein, der soziale Wohnungsbau wurde bewusst zurückgefahren, so dass bezahlbarer Wohnraum immer knapper wurde. Beides zusammen, die bescheidene Entwicklung der Verdienste und die starke Erhöhung der Mieten, zog zwangsläufig die Auflösung des konservativen Familienmodells nach sich, weil nun viel häufiger als zuvor beide Elternteile in Vollzeit erwerbstätig sein mussten. Einerseits die traditionellen Familienwerte hochhalten, aber andererseits die Marktkräfte entfesseln, das schließt sich gegenseitig aus. Wer etwa am Arbeitsplatz zeitlich flexibel sein soll, kann der Familie keinen verlässlichen Rahmen mehr bieten. Ein unauflösliches Dilemma, und vermutlich haben das viele Konservative immer noch nicht in ausreichendem Maße verstanden. Wie dem auch sei, jedenfalls wirkt die Sorge von Friedrich Merz um die ärmeren Schichten in der Bevölkerung ziemlich bemüht. Ob ihm das Wohlergehen dieser Menschen wirklich am Herzen liegt, darf bezweifelt werden. Insofern dürfte er es schwerhaben, diese Wählergruppen für die CDU zu erschließen. Wer die nächste Bundestagswahl gewinnen will, sollte möglichst glaubwürdig sein. Dazu gehört, sich konstruktiv einzubringen und die eigenen Fehler offen einzuräumen. Doch genau das lässt die CDU derzeit vermissen. ----------
[1]
CDU vom 24.06.2022
[2]
Deutscher Bundestag, Beschleunigter
Ausbau der erneuerbaren Energien – Potenziale nutzen,
Bürokratie abbauen, Anreize schaffen, Drucksache 20/2345
[3]
tagesschau.de vom 16.06.2023
[4]
Deutscher Bundestag, Schwesig:
Elterngeld zum Familiengeld ausbauen
[5]
Bayernkurier vom 19.06.2016
[6]
Deutscher Bundestag, Fraktionen
positionieren sich im Kampf gegen die Kinderarmut
[7]
Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Statistisches
Taschenbuch 2011, Tabelle 1.15, Hinweis: Die Zahlen bis und
ab 1991 sind wegen der Wiedervereinigung nicht miteinander
vergleichbar und werden deshalb getrennt ausgewiesen
[8] Statistisches Bundesamt, Tabelle
62361-0020, Hinweis: für 2005 und 2006 liegen keine
neuberechneten Daten vor, eine ältere Statistik, die bei der
Bundeszentrale für politische Bildung
abrufbar ist, weist für diese Jahre ebenfalls ein Minus von
0,7 % bzw. 1,4 % aus
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