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17. Juni 2023, von Michael Schöfer
Markus Söder wird mit heruntergelassenen Hosen dastehen


"Die Niederschlagsmenge war landesweit deutlich unterdurchschnittlich und erreichte nur gut 60% des normalen Wertes (1991-2020)", liest man auf der Website der Landesanstalt für Umwelt Baden-Württemberg (LUBW). [1] Die Rede ist vom Mai 2023, doch die Lage verschärft sich dramatisch: Im Juni 2023, der nun schon zur Hälfte hinter uns liegt, hat es in Baden-Württemberg überhaupt nicht geregnet. Bislang sind in Mannheim, Stuttgart, Lahr und Konstanz null Prozent der mittleren Regenmenge des langjährigen Vergleichszeitraums von 1961 bis 1990 gefallen. Null Prozent! Der Juni 2023 war bisher in ganz Deutschland viel zu trocken. Sogar in Bayern. [2] Dabei hat der kalendarische Sommer noch nicht einmal begonnen.

Was Klimaforscher derzeit besonders beunruhigt, sind die ungewöhnlich hohen Temperaturen der Ozeane, die liegen nämlich weit über dem Durchschnitt. So hohe Temperaturen wurden noch nie gemessen. Ein schlechtes Zeichen.


[Birkel, S.D. 'Daily Sea Surface Temperature', Climate Reanalyzer, Climate Change Institute,
University of Maine, USA, CC BY-NC 4.0-Lizenz, roter Pfeil u. Text durch den Verfasser hinzugefügt]


Da die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten des El Niño-Phänomens steigt, sind wohl in den nächsten Jahren abermals Rekordtemperaturen zu erwarten. Mit den entsprechenden Folgen, etwa zusätzliche Hitzetote in den überheizten Städten oder eine verstärkte Dürre in Mitteleuropa, wo die Lage ohnehin bereits prekär ist. [3]

Das können wir als Gesellschaft doch nicht ignorieren, da müssen wir doch etwas tun. Aber wenn man sieht, wie der Klimaschutz in Berlin durch parteitaktische Manöver unter die Räder gerät, gibt es wenig Grund für Optimismus. Ein Trauerspiel ohnegleichen. Alle beteuern, sie seien für Maßnahmen gegen den Klimawandel, aber faktisch hintertreiben sie ständig vorgeschlagene Lösungen. Allen voran die "Partei der Freiheit und der Selbstbestimmung" (Synonyme für Verantwortungslosigkeit und Egoismus).

Doch die Uhr tickt, die Menschheit darf, um bestimmte Temperaturschwellen nicht zu überschreiten, nur noch eine begrenzte Menge Treibhausgase emittieren. Für das 1,5-Grad-Ziel bleiben noch 6 Jahre Zeit, für das 2-Grad-Ziel lediglich 23 Jahre und 10 Monate. Hinweis: Eine um zwei Grad wärmere Welt ist alles andere als komfortabel. Im Gegenteil, sie ist ziemlich unbequem, aber wenigstens noch einigermaßen handhabbar.


[Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change (MCC),
Verbleibendes CO2-Budget , So schnell tickt die CO2-Uhr, abgerufen am 17.06.2023]


Das ist keine politische Meinung, das sind physikalische Fakten. Grob gesagt lautet die Formel: Absorptionsvermögen der Treibhausgase x Menge in der Atmosphäre = zu erwartende Temperatur. Dagegen sind selbst Wutreden auf dem Volksfestplatz in Erding völlig machtlos.

Die Situation der Menschheit ist in etwa vergleichbar mit einem zinslosen Bankkredit: Wer sich 100.000 Euro leiht und verspricht, sie der Bank spätestens in 30 Jahren zurückzuzahlen (egal wie), nimmt das Ganze anfangs vielleicht auf die leichte Schulter, schließlich beträgt die rechnerische Belastung bloß 277,78 Euro pro Monat. Doch diese Sicherheit ist trügerisch - vor allem, wenn der Schuldner beschließt, zunächst einmal überhaupt nichts zurückzuzahlen. Er muss ja nur in 30 Jahren die Summe komplett zurückgezahlt haben und geht eben gern ins Restaurant oder ins Theater. Warum sich einschränken, wenn es - zunächst - auch anders geht?

Aber die Zeit des Dolce Vita rächt sich unabwendbar, weil die monatliche Rate nach 15 Jahren schon 555,56 Euro beträgt. Allen müsste klar sein: Je länger der Schuldner wartet, desto höher ist die Summe, die er vorsorglich zurücklegen sollte. Weil das sein verfügbares Monatseinkommen drastisch mindern würde, entschließt er sich jedoch, erst fünf Jahre vor dem Rückzahlungstermin mit dem Sparen anzufangen. Das "süße Leben" gibt man halt nicht gerne auf. Dann beträgt die monatliche Belastung aber bereits 1.666,67 Euro. Nun bleibt ihm vom verfügbaren Einkommen nur noch ein kleiner Bruchteil, und er weiß nicht, wovon er seinen Lebensunterhalt bestreiten soll. Hätte er sofort mit der Rückzahlung begonnen, wäre die monatliche Belastung in der Tat erträglich gewesen. Die Prognose, dass er am Rückzahlungstag die Privatinsolvenz beantragen muss, ist keineswegs unrealistisch, sie liegt vielmehr auf der Hand. Für Reue ist es zu diesem Zeitpunkt allerdings zu spät, die Fehler sind nachträglich nicht mehr zu korrigieren.

Übertragen auf den Klimawandel bedeutet das: Wegen unserer faktischen Untätigkeit laufen wir aktuell auf eine um 4 Grad wärmere Welt zu, die zweifelsfrei katastrophale Folgen für die gesamte Menschheit haben wird. Hätten wir vor 30 Jahren, als der Treibhauseffekt ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit rückte, sofort mit den notwendigen Umbaumaßnahmen begonnen, müssten wir heute nicht alle Kräfte mobilisieren. Was wäre besser und zumutbarer gewesen: 50 Jahre lang peu à peu auszutauschen oder dichtgedrängt innerhalb von zwei Jahrzehnten? Da wir uns freilich aus Bequemlichkeit den Luxus erlaubten, das Ganze weitgehend zu ignorieren, sollten wir jetzt ganz schnell alle fossilen Heizungen in unseren Wohnungen austauschen. Hier helfen Wutreden auf dem Volksfestplatz in Erding ebenso wenig. Denken Sie an den Bankkredit, die Stunde der Wahrheit kommt so sicher wie das Amen in der Kirche.

Kurios: Jetzt schreien die, die in den letzten Jahrzehnten alles nach Kräften blockiert haben, am lautesten "Bevormundung", "Überforderung" oder "Verbotskultur". Aber am Rückzahlungstermin (wenn das CO2-Budget endgültig aufgebraucht ist) stehen die Söders und Aiwangers dieser Republik bestimmt mit heruntergelassenen Hosen vor dem Bankdirektor. Das Voralpenland ist inzwischen braun geworden (nicht politisch, sondern aufgrund der Dürre) und der stark absinkende Wasserspiegel des Starnberger Sees bringt jedes Jahr immer mehr Autowracks zum Vorschein. Doch das ficht sie nicht an, denn selbst dann geht alles seinen gewohnten Gang: Schuld sind natürlich einmal mehr die anderen. Markus Söder wird wie üblich verbal auf die Grünen eindreschen und die Wählerinnen und Wähler werden wie eh und je frenetisch applaudieren. In Bayern sind die Menschen eben noch traditionsbewusst. Auch bei 45 Grad im Schatten.

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[1] LUBW, Zustandsbericht über die Grundwasservorräte
[2] WetterKontor, Niederschlag in Deutschland
[3] siehe Mein Michel, schlaf' ruhig weiter vom 15.06.2023