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24. Juni 2023, von Michael Schöfer
Emotional verständlich, doch rational falsch

Anteilnahme bei Unglücken, selbst wenn Fremde zu Schaden kamen, ist eine positive menschliche Eigenschaft. Dennoch ist es befremdlich, wie sehr auch dabei die Herkunft und der soziale Status eine Rolle spielen. Wenn fünf wohlhabende Menschen beim Versuch, das Wrack der 1912 gesunkenen Titanic zu besuchen, ums Leben kommen, weil ihr offenbar technisch unzureichendes U-Boot implodiert ist, dominiert das Ganze tagelang die Schlagzeilen. Wenn vor Griechenland möglicherweise sogar durch die Schuld der griechischen Küstenwache mehr als 600 arme Flüchtlinge ertrinken, flaut das Interesse vergleichsweise schnell ab.

"In eisiger Tiefe", titelt Spiegel-Online und meint damit den Nordatlantik in 3800 m Tiefe, wo die Titanic-Touristen gestorben sind. Das gesunkene Flüchtlingsschiff liegt aber vermutlich noch tiefer, in dem bis zu 5109 m tiefen Calypsotief des Mittelmeeres. Die Leichen der Flüchtlinge liegen ebenfalls "in eisiger Tiefe", nur wird es halt selten so schaurig beschrieben.

Häufig wird darauf hingewiesen, dass die U-Boot-Passagiere wahrscheinlich von der Implosion gar nichts mitbekommen haben, weil sich diese in Millisekunden abspiele. Die Abenteurer mussten nicht leiden, beruhigt uns BILD, der Tod komme in dieser Tiefe "schnell und schmerzlos". Auf dem sinkenden Flüchtlingsschiff befanden sich nach Aussage von Überlebenden unter Deck viele Frauen und Kinder, für die die letzten Minuten ihres Lebens bestimmt fürchterlich gewesen sein müssen. Darüber liest man in der Presse aber so gut wie nichts.

"Werden die 'Titan'-Toten jemals geborgen?", fragt die Hessische/Niedersächsische Allgemeine. Bei den Flüchtlingen wird sofort darauf hingewiesen, dass Experten eine Bergung für sehr aufwendig und teuer halten, sie sei deshalb unwahrscheinlich. Wie aufwendig man nach den toten Titanic-Touristen suchen wird, ist bislang noch offen. Doch auch hier ist eine eklatante Diskrepanz nicht auszuschließen.

So ist die menschliche Natur: Dramen, die Menschen des eigenen Kulturkreises betreffen, beim Tauchgang an der Titanic kamen ein Amerikaner, ein Franzose, ein Brite, ein britisch-pakistanischer Geschäftsmann sowie dessen Sohn ums Leben, berühren uns mehr als Dramen, die Menschen aus der sogenannten "Dritten Welt" betreffen. Selbst wenn es bei letzteren wesentlich mehr Opfer gibt.

Man muss das nicht verurteilen, darf aber zumindest darauf hinweisen, dass dem eine verzerrte Wahrnehmung zugrunde liegt. Emotional verständlich, doch rational falsch, denn jedes Menschenleben sollte für uns den gleichen Wert besitzen - unabhängig von Herkunft und Status. Gewiss, die Realität sieht anders aus, aber vielleicht ist genau das auf diesem geschundenen Planeten unser größtes Problem.