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03. Juli 2023, von Michael Schöfer
Durchschaubare Appelle ans Gemeinwohl


"Fragt nicht, was euer Land für euch tun kann - fragt, was ihr für euer Land tun könnt", hat John F. Kennedy in seiner Antrittsrede am 20. Januar 1961 gesagt. Natürlich wäre es toll, wenn jeder zuerst ans Gemeinwohl und erst danach an den Eigennutz denken würde. Idealerweise bedingt das eine ohnehin das andere: Geht es dem Land gut, geht es auch dem Einzelnen gut. Zumindest sofern die Früchte gerecht verteilt werden. Aber da wir bekanntlich nicht in einer idealen Welt leben, sind derartige Appelle meist pure Heuchelei. Das Gemeinwohl wird von interessierten Kreisen bloß vorgeschoben, um hinter dem Schleier des Altruismus eigensüchtige Partikularinteressen zu bedienen.

Saori Dubourg war früher im Vorstand der BASF, und beim SZ-Nachhaltigkeitsgipfel in München wünschte sie sich, dass "wir ab und zu die Ärmel hochkrempeln und uns einsetzen für Europa, weil es viele Werte gibt, leider nicht mehr überall, für die es lohnt, sich einzusetzen. Wirtschaftliche Stärke ist eine Grundvoraussetzung für Demokratie." [1] Dafür habe sie viel Beifall bekommen, berichtet die Süddeutsche.

Auch Gitta Connemann, CDU-Bundestagsabgeordnete und Bundesvorsitzende der Mittelstands- und Wirtschaftsunion, appelliert ans Gemeinwohl, weshalb sie für die Abschaffung der "Rente mit 63" plädiert. "'Ich bin selbst Babyboomerin. Und ich verstehe jeden, der für sich persönlich sagt ich will weniger arbeiten. Ja, aber am Ende geht es nicht nur um persönliche Wünsche'. Es gehe auch um das Funktionieren des Staates und den Wirtschaftsstandort Deutschland. 'Und wenn wir dafür sorgen wollen, dass wir aus dieser Delle wieder rauskommen, in der wir uns zurzeit befinden, würde ich sagen, wir sollten gemeinsam an einem Strang ziehen. Und dazu gehört Gemeinwohl immer vor individuellem Wohl.'" [2] John F. Kennedy wäre begeistert.

Derartige Appelle hören sich zwar auf den ersten Blick gut an, doch verzichten sollen natürlich wie gehabt immer bloß die anderen. Im Interesse des Gemeinwohls, versteht sich.

Demokratie? Super! Aber warum wehren sich dann nach wie vor so viele Unternehmensführungen gegen Betriebsräte? Oder soll der Arbeitsplatz von der gewünschten Demokratisierung ausgenommen werden? In Deutschland haben lediglich 8 Prozent der Unternehmen einen Betriebsrat. [3] Mitsprache ja, aber bitte nicht bei mir!

Wirtschaftliche Stärke ist eine Grundvoraussetzung für Demokratie? Gilt das auch umgekehrt: Demokratie ist eine Grundvoraussetzung für wirtschaftliche Stärke? Oder darf es, wie etwa im totalitären China, im Zweifelsfall auch einmal ohne Demokratie gehen? Für viele dort engagierte Unternehmen sind Demokratie und Menschenrechte reine Lippenbekenntnisse und letztlich im Interesse der Profite verzichtbar. "Vertragt euch und lasst uns weiter Geld verdienen", empfahl kürzlich der Geschäftsführer eines mittelständischen Unternehmens den Regierenden in Berlin und Peking. [4] Unverhohlener kann man seine Skrupellosigkeit kaum zum Ausdruck bringen.

Der Aussage, dass das Gemeinwohl immer vor dem Eigennutz kommen soll, kann man uneingeschränkt zustimmen. Allerdings drängen sich in diesem Zusammenhang Fragen auf: Binden sich nun wieder alle Unternehmen an Tarifverträge? In Westdeutschland galt 2021 bloß noch für 54 Prozent der Beschäftigten ein Branchen- oder Firmentarifvertrag, in Ostdeutschland waren es magere 45 Prozent. [5] Werden lukrative Steuersparmodelle zur legalen Steuervermeidung aufgegeben? Von den Anteilseignern kann man schließlich den gleichen Verzicht verlangen wie von den Babyboomern. Senken die Wohnungsunternehmen ab sofort die Mieten, um die Menschen spürbar zu entlasten? Verzichten künftig alle Autobauer auf die trickreiche Umgehung von Umweltschutzauflagen? Verringern die Firmen ihre üppigen Gewinnmargen, um die Inflation einzudämmen? Gönnen Vorstandsvorsitzende von jetzt an ihren Mitarbeitern die gleiche Gehaltserhöhung, die sie selbst bekommen?

Oops, so war das mit dem Gemeinwohl anscheinend nicht gedacht, denn von alldem ist bislang nichts bekannt geworden. Einseitige Appelle sind daher völlig nutzlos, weil sie sofort als Heuchelei entlarvt werden. Aber man kann es ja mal versuchen, denn angeblich steht jeden Morgen ein Dummer auf, der einem das Gesülze abkauft.

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[1] Süddeutsche vom 27.06.2023
[2] SWR vom 23.06.2023
[3] Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit, Daten zur Tarifbindung und betrieblichen Interessenvertretung, Excel-Datei mit 129 KB
[4] Süddeutsche vom 20.06.2023
[5] Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit, a.a.O.