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13. Juli 2023, von Michael Schöfer
Das kurze Gedächtnis


Immer, wenn die SPD einen vernünftigen Vorschlag macht, wird von den Medien irgendein abgehalfterter SPD-Politiker interviewt (Spötter behaupten: exhumiert), um diesen Vorschlag in Bausch und Bogen zu verdammen. In der Vergangenheit spielte diese Rolle häufig ein gewisser Klaus von Dohnanyi, der aber dafür inzwischen wohl doch ein bisschen zu alt ist. Der 1928 geborene SPD-Politiker trat zwar bereits 1988 vom Amt als des Ersten Bürgermeisters der Freien und Hansestadt Hamburg zurück, tingelte aber dessen ungeachtet bis zuletzt durch die Talkshows und fiel dabei seiner Partei gerne in den Rücken. Diese Rolle scheint nun Peer Steinbrück zu übernehmen, der allerdings mittlerweile auch schon 76 Jahre auf dem Buckel hat und zuletzt 2016 SPD-Bundestagsabgeordneter gewesen ist. Nichtsdestotrotz war er nun bei Maischberger zu Gast und durfte sich dort abfällig über den Vorschlag des SPD-Vorsitzenden Lars Klingbeil äußern, der die Abschaffung des Ehegattensplittings forderte. Das greifen die Medien natürlich genüsslich auf.

"Da lässt man nicht so einfach mal so einen Heißluftballon starten, ohne die damit verbundenen Fragen sehr genau abzuwägen", echauffierte sich Steinbrück in der ARD. [1] Wir erinnern uns: Vor zehn Jahren war Peer Steinbrück Kanzlerkandidat der SPD und trat gegen Angela Merkel an, die Bundestagswahl versiebte er jedoch nicht zuletzt durch den berühmt-berüchtigten Stinkefinger auf dem Titelblatt des SZ-Magazins. Die für einen Möchtegern-Kanzler bemerkenswerte Geste ist von ihrer negativen Wirkung her wohl nur mit Armin Laschets unangemessenem Lachen im Flutgebiet anno 2021 vergleichbar. Die Wählerinnen und Wähler sagten danach in beiden Fällen mehrheitlich: Der soll uns regieren? Lieber nicht!

Interessant im vorliegenden Zusammenhang ist das SPD-Bundestagswahlprogramm 2013 - also das Programm, mit dem der Kanzlerkandidat Peer Steinbrück damals antrat. Auf Seite 50 findet sich zum Ehegattensplitting nämlich folgende Passage:

"Das Ehegattensplitting begünstigt die Einverdienerehe und die Steuerklassenkombination III/V führt zu einer unangemessen hohen monatlichen Belastung des niedrigeren Einkommens. Dies hindert Frauen an Erwerbstätigkeit und hält sie hartnäckig in der Rolle von Zuverdienerinnen. Außerdem ist es gesellschaftlich ungerecht: Der Splittingvorteil ist am größten einerseits für Spitzenverdiener und andererseits für Paare mit der größten Einkommensdifferenz zwischen den Partnern. Wir wollen das Steuersystem so erneuern, dass sich die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit auch für verheiratete Frauen lohnt und die Vielfalt der Familienformen berücksichtigt wird. Wir wollen Alleinerziehende steuerlich mehr als bisher entlasten. Das Familiensplitting lehnen wir ab, weil es nur die Spitzeneinkommen begünstigt. In Ehen und eingetragenen Lebenspartnerschaften stehen Partner füreinander ein. Deshalb wollen wir für künftige Ehen ab einem Stichtag anstelle des Ehegattensplittings einen Partnerschaftstarif für Ehegatten einführen, bei dem beide Partner individuell besteuert werden, wobei aber die gegenseitigen Unterhaltsverpflichtungen berücksichtigt werden. Für Ehepartner, die ihre Lebensplanung auf das bisherige Steuersystem ausgerichtet haben, wollen wir nichts ändern. Anstelle der Steuerklassenkombination III/V wollen wir das so genannte Faktorverfahren zur Norm machen. Dabei werden beide Einkommen mit einem gleich hohen Durchschnittssatz besteuert." [2]

Lars Klingbeils Vorschlag ist also keineswegs ein unüberlegter Heißluftballon, denn die Abschaffung des Ehegattensplittings ist eine mindestens 10 Jahre alte Forderung der SPD (das Ehegattensplitting entscheidend ändern wollten die Sozialdemokraten übrigens schon bei der Bundestagswahl 2009, diese Absicht bekundeten sie 2021 in ihrem "Zukunftsprogramm" aufs Neue). Wir wollen doch zugunsten der SPD im Allgemeinen und Peer Steinbrück im Besonderen hoffen, dass die Abschaffung des Ehegattensplittings erst nach reiflicher Überlegung und sorgfältiger Abwägung des Für und Wider Eingang ins Wahlprogramm gefunden hat. Es drängt sich natürlich die Frage auf: Was wäre denn aus dem Ehegattensplitting geworden, hätte Steinbrück die Bundestagswahl gewonnen und tatsächlich auf dem Chefsessel im Kanzleramt Platz genommen? Gut, auch Politiker sind nicht vor Vergesslichkeit gefeit, aber dass sich Steinbrück so gar nicht an das erinnern kann, womit er 2013 um Stimmen geworben hat...  Wie dem auch sei, jedenfalls wiederholt Klingbeil lediglich altbekannte Forderungen der SPD.

Bei aller berechtigten Kritik an den Sozialdemokraten ist es eine in meinen Augen schlimme Unsitte der Medien, dem geneigten Publikum ständig abgehalfterte SPD-Politiker zu präsentieren, die dann öffentlich SPD-Bashing betreiben. Man darf sich das Ganze in der ARD-Mediathek gerne selbst ansehen (ab Min. 53:40). Der gut informierte Zuschauer ärgert sich zum wiederholten Male über hochbezahlte Journalisten, die an solchen Stellen nicht einmal mit einem Satz kritisch nachfragen und auf den offenkundigen Widerspruch hinweisen. "Das Ehegattensplitting abschaffen wollten Sie 2013 doch selbst", hätte als Einwand Sandra Maischbergers vollauf genügt. Politiker kommen leider viel zu oft damit durch, wenn sie bei ihren beifallheischenden Äußerungen auf das kurze Gedächtnis der Menschen bauen. Wenn sie jedes Mal auf ihre gegenteiligen Absichten früherer Tage hingewiesen würden, müssten sie ihren Meinungswechsel wenigstens plausibel erläutern. Doch so billig wie Steinbrück bei Maischberger sollte man sie nicht davonkommen lassen.

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[1] tagesschau.de vom 13.07.2023
[2] SPD, Das Regierungsprogramm 2013 - 2017, PDF-Datei mit 1 MB