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26. Juli 2023, von Michael Schöfer
Man muss die Probleme der Menschen lösen


Jeder sieht zunächst einmal seine eigenen Probleme, erst danach kommen die der anderen. Das ist völlig normal. Doch die Perspektiven sind höchst unterschiedlich, wenn ich beispielsweise Villenbesitzer in Königstein im Taunus wäre, würde ich mir angesichts der Trockenheit womöglich ebenfalls zuerst Sorgen um meinen gepflegten Rasen machen, schließlich soll er ja nicht verdorren. Was macht denn das für einen Eindruck? Was sollen die Gäste meiner Gartenparty denken? [1] Wenn ich dagegen Rentner bin, habe ich vermutlich schon in Ermangelung einer Villa ganz andere Sorgen.

Ein Standardrentner, der 45 Jahre Beiträge gezahlt und immer durchschnittlich verdient hat, bekam Mitte 2022 in Westdeutschland magere 1.620,90 Euro Rente. Brutto, wohlgemerkt. Netto waren es nach Abzug des Kranken- und Pflegeversicherungsbeitrags 1.442,60 Euro. Davon gehen aber noch die Steuern ab, und die werden mit der Steuererklärung im jeweiligen Folgejahr fällig. [2] Da es freilich die Wechselfälle des Lebens so mit sich bringen, dass nicht alle 45 Beitragsjahre zusammenbekommen oder durchschnittlich verdienen, sind die tatsächlich ausgezahlten Renten oft niedriger. 1.152 Euro betrug Mitte 2022 im Schnitt die tatsächlich ausgezahlte Gesamtrente (Zahlbetrag aus allen Rentenleistungen). Einen Eindruck davon, wie unterschiedlich die tatsächlich ausgezahlten Renten ausfallen, vermittelt die Grafik der Bundeszentrale für politische Bildung. [3]


[zum interaktiven Original bitte draufklicken]

Weitere Zahlen, um die soziale Kluft in Deutschland besser zu veranschaulichen: "Ostdeutsche haben 2022 im Schnitt rund 13.000 Euro im Jahr weniger verdient als Westdeutsche." [4] "23,35 Prozent der Beschäftigten - rund 9,3 Millionen der insgesamt 39,8 Millionen Erwerbstätigen - verdienen (...) weniger als 14 Euro brutto in der Stunde. 14,8 Prozent der Erwerbstätigen erhalten den Mindestlohn von 12 Euro die Stunde." [5] 14 Euro pro Stunde sind bei einer 40-Stunden-Woche ein monatliches Bruttoeinkommen von 2.435 Euro (40 Std. x 4,348 Wochen pro Monat x 14 €). Das heißt, fast ein Viertel der Beschäftigten haben nicht einmal das.

Politiker haben großen Einfluss auf unser Einkommen, beispielsweise auf die Höhe der Renten, die Höhe der Steuern oder die Höhe der Sozialabgaben. Sie legen per Gesetz fest, wer Subventionen oder Sozialleistungen erhält und wie der Mieterschutz ausgestaltet ist. Kurzum, das Wohlergehen der Bevölkerung hängt zu einem Gutteil von ihren Entscheidungen ab. Bedauerlicherweise ist ihre Perspektive aber oft eine andere als die ihrer Wählerinnen und Wähler. Dass sich der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz nur der "oberen Mittelschicht" zugehörig fühlt, obwohl er 2020 ein Jahreseinkommen von rund einer Million gehabt haben soll und obendrein ein Privatflugzeug besitzt, ist bezeichnend. Merz dürfte vielmehr, was sein damaliges Einkommen angeht, zum reichsten Prozent der Bevölkerung gehört haben, d.h. 99 Prozent verdienten weniger. [6] Echt krass, dieser Unterschied zwischen Selbstwahrnehmung und Realität.

Bundestagsabgeordnete ohne besondere Funktion bekommen derzeit monatlich eine steuerpflichtige Grunddiät von 10.591,70 Euro (Stand: 1. Juli 2023). Hinzu kommen die Amtsausstattung und die steuerfreie Kostenpauschale in Höhe von 4.725,48 Euro (Stand: 1. Januar 2023). Offenbar ist das vielen nicht genug: "Nach Recherchen von abgeordnetenwatch.de und SPIEGEL haben fast vier von zehn Abgeordneten (38,9 Prozent) seit der Bundestagswahl 2021 veröffentlichungspflichtige Zusatzeinkünfte erhalten, oftmals in beträchtlicher Höhe. Auf 24,8 Mio. Euro (brutto) belaufen sich die gemeldeten Nebeneinkünfte." [7] Die interaktive Karte bei abgeordnetenwatch.de macht es leicht, die Nebeneinkünfte seines/seiner Abgeordneten herauszufinden.

Greifen wir einmal den CSU-Politiker Peter Ramsauer heraus, der von Oktober 2009 bis Dezember 2013 Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung war. Wer sich auf der Website des Bundestages die Fülle seiner entgeltlichen Tätigkeiten neben dem Mandat ansieht, staunt. Hat der Mann überhaupt noch Zeit für die Abgeordnetentätigkeit? Seit der Bundestagswahl 2021 hat er laut abgeordnetenwatch.de nebenher 199.100 Euro verdient. Ein Vollzeit-Arbeitnehmer mit einem Stundenlohn von 14 Euro müsste für das, was Ramsauer neben seiner Diät kassiert, knapp sieben Jahre lang arbeiten. Apropos, als es 2014 um die Einführung des gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro ging, sah Ramsauer die Wettbewerbsfähigkeit und die Zukunft Deutschlands in Gefahr. [8] Wasser predigen, aber selbst Wein trinken.

Überspitzt formuliert: "Arme" Volksvertreter müssen sich notdürftig mit Nebeneinkünften über Wasser halten, "reiche" Rentner suchen nebenbei in den Mülltonnen nach Pfandflaschen. Kein Wunder, dass die soziale Spaltung der Gesellschaft hoch ist: "In Deutschland waren im Jahr 2022 gut 17,3 Millionen Menschen von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Das waren 20,9 % der Bevölkerung. "[9] Auch Kinder und Jugendliche leiden unter Armut: "Im Jahr 2022 war knapp jede oder jeder vierte (24,0 %) unter 18-Jährige in Deutschland von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht." [10] Wohlgemerkt, in einem der reichsten Länder der Welt. Interessant ist, wo dessen ungeachtet die Prioritäten liegen: Finanzminister Christian Lindner (FDP) plant, die Unternehmen jährlich um sechs Milliarden Euro zu entlasten [11], will aber angeblich für die Kindergrundsicherung bloß zwei Milliarden herausrücken [12]. Dass in der FDP-Bundestagsfraktion der Anteil der Abgeordneten mit Nebeneinkünften am höchsten ist (55 Prozent) - nur ein dummer Zufall.

Man kann die AfD wieder kleinkriegen, aber dazu muss man die Probleme der Menschen lösen. Die wirklichen Probleme. Und das ernsthaft, nicht bloß zum Schein. Doch die wirklichen Probleme sind nicht bei der "oberen Mittelschicht" zu finden, sondern bei denen, die sich angesichts explodierender Mieten und stark steigenden Verbraucherpreisen am Ende des Monats besorgt fragen, wie sie über die Runden kommen sollen. Bewerteten im Juli 2022 nach Angaben von infratest dimap 22 Prozent ihre eigene wirtschaftliche Lage als "weniger gut" und 7 Prozent als "schlecht" [13], waren es im Juni 2023 schon 28 bzw. 6 Prozent [14].

Die Unzufriedenheit wächst also. Allerdings ist die Unzufriedenheit höchst ungleich verteilt: "46 Prozent der AfD-Anhänger bewerten die eigene wirtschaftliche Lage als "weniger gut" oder "schlecht". Bei den Anhängern der Union sind es 29, bei denen der Grünen gerade einmal 14 Prozent." [15] Diese Erkenntnis ist keineswegs neu, das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat bereits 2017 darauf hingewiesen, dass die Unzufriedenheit mit dem persönlichen Einkommen und mit der Verwirklichung der sozialen Gerechtigkeit in Deutschland bei AfD-Wählern und Nichtwählern am größten ist. [16] Es sieht jedoch nicht so aus, als hätten die Regierenden daraus etwas gelernt. Im Gegenteil, wegen den gestiegenen Umfragewerten der AfD rennen sie kopflos wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen herum und fragen erschrocken: Was tun? Antwort: "It's the economy, stupid."

Vielleicht liegt es auch daran, dass im Bundestag zu viele Akademiker (insbesondere Beamte und Juristen) sitzen und zu wenig Abgeordnete mit praktischer Erfahrung in Lehrberufen. Repräsentativ für die Bevölkerung ist das Parlament jedenfalls nicht. Die Interessen der einfachen Menschen werden dort, nun ja, zu oft übersehen. Und wer zu oft übersehen wird, macht sich eben irgendwie bemerkbar, etwa indem er eine Partei wählt, die die etablierten Parteien mächtig ärgert. Für mich ist das noch lange kein Grund, Rechtsradikale zu wählen, aber es macht möglicherweise die Motive derer, die es tun, verständlicher. Man kann natürlich versuchen, die Menschen weiterhin mit substanzlosen Ankündigungen und hohlen Phrasen über den Tisch zu ziehen, doch das kann fürchterlich schiefgehen. Den AfD-Wählern Honig um den Bart schmieren ohne tatsächlich etwas zu ändern, ist in meinen Augen eine untaugliche Strategie.

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[1] Express vom 26.07.2023
[2] Deutsche Rentenversicherung, Aktuelle Daten 2023, PDF-Datei mit 57 KB
[3] Bundeszentrale für politische Bildung, Renten nach Zahlbetrag (GRV)
[4] Tagesspiegel vom 18.07.2023
[5] tagesschau.de vom 26.07.2023
[6] Süddeutsche vom 15.07.2023
[7] abgeordnetenwatch.de vom 05.06.2023
[8] Stern.de vom 30.06.2014
[9] Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 190 vom 16.05.2023
[10] Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. N045 vom 26.07.2023
[11] ZDF vom 12.07.2023
[12] tagesschau.de vom 03.07.2023
[13] infratest dimap, ARD-Deutschlandtrend Juli 2022, Seite 8, PDF-Datei mit 319 KB
[14] infratest dimap, ARD-Deutschlandtrend Juni 2023, Seite 10, PDF-Datei mit 525 KB
[15] ARD-Panorama vom 09.06.2023
[16] DIW, Wochenbericht Nr. 29.2017, PDF-Datei mit 517 KB