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27. Juli 2023, von Michael Schöfer
Borniertheit und Gehässigkeit haben gesiegt


Man kann die Borniertheit und Gehässigkeit der Diskussion vergangener Jahre um die richtige Energiepolitik nicht erschöpfend darstellen. Jedenfalls nicht in der gebotenen Kürze. Dennoch hat mich heute eine Meldung genau daran erinnert, ein einziger Satz hat genügt: "Die Bundesregierung hat den Startschuss gegeben für den Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft", stand in der Süddeutschen Zeitung. Neudeutsch formuliert: Der Satz hat mich getriggert. Endlich, dachte ich zunächst. Aber dann schoss mir ein Gedanke durch den Kopf, auf dessen Wiedergabe ich hier aus Gründen des Anstands verzichte: "Ihr ******!" Nein, damit meine ich nicht die Ampelregierung, sondern sämtliche Ignoranten der vergangenen Jahrzehnte. Wären die Politiker nämlich klug gewesen, würden wir heute mit der Wasserstoffwirtschaft nicht erst am Anfang stehen, sondern längst mit ihr arbeiten.

Kleine Rückblende: Der viel zu früh verstorbene SPD-Politiker Hermann Scheer hat sich bereits in den achtziger Jahren für die Nutzung der Sonnenenergie stark gemacht. Die Folgen der CO2-Emissionen auf das Weltklima waren ihm frühzeitig bewusst. "Sonnenpapst", war sein Spitzname. 1987 erschien das von ihm herausgegebene Buch "Die gespeicherte Sonne. Wasserstoff als Lösung des Energie- und Umweltproblems". Ein Rezensent schrieb damals im Deutschen Ärzteblatt:

"Die Autoren stellen unterschiedliche Konzepte zur Nutzung der Sonnenenergie vor. (…) Das Ziel ist in allen Fällen die großtechnische Nutzung, die einen wesentlichen Beitrag zur Versorgung mit Energie bis hin zur vollständigen Substitution der bisherigen Energiesysteme führen soll. Die Sonnenenergie soll deshalb nicht nur elektrischen Strom liefern, sondern auch zur Erzeugung von solarem Wasserstoff genutzt werden. Wasserstoff als gespeicherte Sonnenenergie soll unsere gasförmigen, flüssigen und festen Brennstoffe und Kraftstoffe, deren Verfügbarkeit langfristig nicht gesichert ist, ablösen. (…) Die Autoren machen allerdings auch klar, daß die Entwicklung und Einführung der Solar- und Wasserstofftechnologie einige Jahrzehnte in Anspruch nehmen wird und daß zunächst große Investitionen erforderlich sein werden. Wenn also die Substitution der bisherigen Energieträger durch Solarenergie im Laufe des nächsten Jahrhunderts erfolgen sollte, dann müßten die Weichen heute gestellt werden." [1]

Es hat leider nicht geklappt mit der von Scheer propagierten Solar-/Wasserstoffwirtschaft. Und das lag keineswegs an der fehlenden Technik, die stand seinerzeit zur Verfügung, sondern scheiterte am politischen Widerstand. Deutschland sollte sich von Energieimporten unabhängig machen, forderte er schon 2007 in einem Radiointerview - lange vor der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine:

"Wir hatten im Jahr 1950 in Deutschland eine Importabhängigkeit von 5 Prozent des Energieverbrauchs. Heute haben wir eine, die bei 75 Prozent liegt, das geht anderen genau so und hängt damit zusammen, dass es eben wenige Länder gibt, wo Erdöl, Erdgas, Kohle oder Uran gefördert werden kann wegen der Vorkommen, aber Energieverbrauch überall stattfindet. Daraus ergibt sich schlüssigerweise, dass man aus dieser Falle einer existentiellen Energieabhängigkeit nur herauskommen kann durch eine umfassend angelegte Mobilisierung erneuerbarer Energien, um damit fossile Energien und atomare Energien ersetzen zu können. (…) Es geht nicht nur um die Abhängigkeit von Russland. Ich glaube, dass das eine verkürzte Debatte ist, es geht genauso um die Minderung der Abhängigkeit von den Erdöl- oder den Erdgasvorkommen aus anderen Teilen der Welt, vor allem aus dem arabischen Teil der Welt. Es ist eine generelle Aufgabe, Energieautonomie herbeizuführen, und das ist nur möglich durch erneuerbare Energien." [2] In jenen Tagen wurde übrigens gerade Nord Stream 1 gebaut. Ja, genau die Pipeline, die unsere Energieabhängigkeit von Wladimir Putin drastisch erhöhte, was die Regierenden hierzulande allerdings erst am 24. Februar 2022 zur Kenntnis nahmen.

Wenige Jahre vor seinem überraschenden Tod wollte ihn Andrea Ypsilanti nach dem erhofften Sieg bei der hessischen Landtagswahl 2008 als Wirtschafts- und Umweltminister in ihr Kabinett holen. Die SPD kam zwar verdammt nah an die CDU heran (36,8 zu 36,7 %), wegen der schwierigen Konstellation im Landtag reichte es jedoch nicht zum Regierungswechsel. Roland Koch blieb Ministerpräsident. Hermann Scheer, der 1999 den Alternativen Nobelpreis erhielt, wollte vollständig aus Kohle und Kernkraft aussteigen und beide komplett durch erneuerbare Energien ersetzen. Doch hinter Kohle und Kernkraft standen gewichtige Interessen mit starkem politischen Einfluss, entsprechend heftig wurde er für seine Vision angefeindet. Aus der Zeit des hessischen Landtagswahlkampfes ist ein ziemlich bösartiger Angriff aus den Reihen der CDU erhalten geblieben:

Elisabeth Apel war 2007 umweltpolitische Sprecherin der CDU-Landtagsfraktion. "Stoppt den energiepolitischen Geisterfahrer Hermann Scheer", forderte Apel. "Gestern habe das Mitglied im Zukunftsteam von Andrea Ypsilanti für Wirtschaft und Umwelt, Hermann Scheer, mit seinen Aussagen die 'schlimmsten Befürchtungen und Zweifel an seiner Kompetenz und Eignung' in punkto Umwelt- und Energiepolitik bestätigt. 'Der Auftritt war eine intellektuelle Zumutung und Peinlichkeit für die hessische SPD. Wir brauchen keinen naiven Träumer, sondern Politiker, die mit realistischen Konzepten die Herausforderungen der Zukunft angehen. (…) Einen solchen politisch Irregeleiteten gar als Umwelt- und Wirtschaftsminister vorzusehen, ist unverantwortlich.' Scheer sei über Jahre hinweg überall in Deutschland mit seinem Versuch gescheitert, seine skurrilen Vorstellungen an den Mann zu bringen: 'Jetzt ist mit Frau Ypsilanti erstmals jemand auf ihn reingefallen. (…) Scheer hält mit seinen längst überkommen Thesen wider alle Vernunft an der längst überkommenen Ideologie aus den 70er und 80er Jahren fest - Getreu dem Motto: Wenn meine Visionen nicht mehr zu den Tatsachen passen, dann muss es an den Tatsachen liegen." [3] Ein rauer Ton (Gutmensch und Heilsbringer in Sachen Energie, Geisterfahrer etc.), aber ruppig artikulierte Diffamierungen sind bei der Union gerade in Wahlkämpfen nicht unüblich. Nur komisch, dass momentan alle den "skurrilen Vorstellungen" des "naiven Träumers" folgen und sie realisieren wollen. Halt bloß 35 Jahre zu spät.

Nun ist die Kernenergie mittlerweile Geschichte, während die Erneuerbaren so stark sind wie nie zuvor (1. Halbjahr 2023: Anteil an der Nettostromerzeugung 57,7 %) [4] - doch die Welt ist, oh Wunder, trotzdem nicht untergegangen. Weit und breit kein Blackout in Sicht, obgleich er von den Kernkraftbefürwortern geradezu herbeigesehnt wurde. In Europa, den USA und sogar in China wird derzeit der Ausbau der Erneuerbaren forciert. Das ist die Zukunft. "Die US-Regierung hat mit dem Inflation Reduction Act milliardenschwere Förderprogramme für klimafreundlichen Wasserstoff verabschiedet", schreibt das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft in Köln. "Die Förderpakete des IRA für Wasserstoff erhöhen den Druck auf die EU, den eigenen Markthochlauf von klimafreundlichem Wasserstoff zu beschleunigen." [5] Das leuchtet ein, schließlich wollen wir nicht abgehängt werden.

Diesen Vorwurf kann ich den Verantwortlichen dennoch nicht ersparen, auch wenn ihn manche als Nachtreten interpretieren: Hätten wir vor 35 Jahren auf Hermann Scheer gehört, würden uns jetzt die USA hinterherhecheln, nicht wir ihnen. Und wäre es optimal umgesetzt worden, ein globaler Ausbau der Solar-/Wasserstoffwirtschaft spätestens ab Anfang der neunziger Jahre unterstellt, würde sich vielleicht der Juli 2023 nicht zum heißesten Monat seit Beginn der Industrialisierung entwickeln. Aber so ist der Mensch: Die Borniertheit und die Gehässigkeit haben gesiegt. Und wahrscheinlich ist es jetzt längst zu spät, der Point of no Return bereits überschritten. "Dumm geloffe", würde man dazu in der Kurpfalz sagen. Man kann es im Grunde nur noch mit Galgenhumor ertragen. Habe ich irgendwo in den schier unendlichen Weiten des Internet sinngemäß aufgeschnappt: "Eine gute und eine schlechte Nachricht. Die schlechte zuerst: Der Sommer 2023 wird der heißeste seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Nun die gute: Genießen Sie ihn, er ist der kühlste ihres restlichen Lebens."

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[1] aerzteblatt.de, Deutsches Ärzteblatt vom 10.12.1987, Hervorhebung durch d. Verf.
[2] Deutschlandfunk vom 09.01.2007
[5] IW vom 06.02.2023, Wasserstoff im Inflation Reduction Act: Was ist drin für Deutschland und die EU?