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05. August 2023, von Michael Schöfer
Ich google, also bin ich

Die meisten halten sich ja für besonders schlau (der Verfasser eingeschlossen), aber es gibt eben zum Leidwesen der sich selbst Überschätzenden immer mindestens einen, der sich für noch schlauer hält und es tatsächlich auch ist. Mindestens einen? Nun, in Wahrheit geht die Zahl wahrscheinlich in die Millionen. Gut gemeinter Rat: Wir sollten realistisch sein und uns von sämtlichen Illusionen lösen, denn wir sind bloß ein unbedeutendes Sandkorn in der Sahara.

Beispiel Internet: Jeder der glaubt, etwas zu sagen zu haben, besitzt heutzutage eine Website (der Verfasser eingeschlossen). 1,1 Milliarden Websites soll es weltweit geben. Und natürlich wollen alle im World Wide Web gefunden werden. Wer nicht gefunden wird, existiert quasi nicht. Google ist der Torwächter zu unserer Existenz, ihn gilt es zu überwinden. Website-Besitzer versuchen das bekanntlich mit Suchmaschinenoptimierung. Neudeutsch: Search Engine Optimization (SEO).

Jeder Webseite-Entwickler/Webhoster wird Ihnen weismachen, Sie mit ausgeklügeltem SEO im Suchmaschinenranking nach oben hieven zu können und dadurch aus der anonymen Masse herausragen zu lassen, schließlich will er etwas verdienen. Doch die anderen Website-Besitzer wollen das natürlich auch, die entsprechenden Chancen kann man sich leicht an fünf Fingern abzählen.

Was ist angesichts dessen realistisch? Die Wahrheit ist bitter: Der Wunsch nach Relevanz entpuppt sich in der Regel als Hühnerkacke. Ein Beispiel: Mit dem Suchbegriff "Zensur" kommt Google auf ungefähr 5,1 Mio. Treffer, wovon die Suchmaschine allerdings bloß 200 auflistet. Die anderen 5.099.800 gehen also völlig unter. Ich will Ihnen ja nicht die letzte Hoffnung rauben und Sie in die Depression treiben, aber wenn Sie einen Artikel über Zensur schreiben und im Internet veröffentlichen, vergeuden Sie damit im Grunde nur Ihre kostbare Zeit. Fazit: Ausgeklügeltes SEO ist lediglich die berühmt-berüchtigte Karotte, die man Ihnen vor die Nase hält.

Dieses zusätzliche Sandkorn fällt nämlich in der Sahara gar nicht auf. Nehmen wir an, Ihr Artikel wurde überhaupt in den Suchmaschinenindex aufgenommen, wird kaum jemand mit exakt den fünf Suchbegriffen suchen, mit denen man Ihren Artikel wirklich angezeigt bekäme. Außer Ihnen selbst natürlich, wenn Sie haargenau mit diesen fünf Suchbegriffen prüfen, ob Sie existieren. Motto: "Ich google, also bin ich (falls ich mich finde)." Und wenn es trotz allem nicht klappt, na dann...

Wobei man gelegentlich von Autoren liest, die zwar viele Bücher geschrieben haben, aber kein einziges davon veröffentlichen konnten, weil sie keinen Verleger fanden. Wer lange schreibt, ohne die Hoffnung zu haben, je wahrgenommen zu werden, besitzt echte Leidenschaft. Selbst wenn er lebenslang bloß ein verkannter Schriftsteller bleibt. Anders nimmt man diese Sisyphusarbeit nicht auf sich, ohne dabei verrückt zu werden.

Albert Camus war der Ansicht: "Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen." Kann sein, oder auch nicht. Jedenfalls ist Sisyphos zweifelsfrei ohne Suchmaschinenoptimierung glücklich gewesen. Vermutlich sogar ganz ohne Google. Schwer zu glauben, wie die das damals ausgehalten haben. Aber darüber gibt uns Homer (nicht Simpson!) leider keine Auskunft.