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06. August 2023, von Michael Schöfer
Früher nannte man das Sippenhaft


Was der Staat früher zu wenig getan hat, sich um die sogenannte "Clankriminalität" zu kümmern, will er jetzt in rechtsstaatlich bedenklicher Weise nachholen, schießt aber damit weit übers Ziel hinaus. Was ist "Clankriminalität" überhaupt? Den Wissenschaftlichen Diensten des Deutschen Bundestags zufolge gibt es keine verbindliche Definition.

"Dennoch haben die zuständigen Bundes- und Landesbehörden bestimmte Zuordnungskriterien und Indikatoren für Clankriminalität erstellt, die eine bessere Darstellung im Kontext Organisierter Kriminalität gewährleisten sollen. Clankriminalität ist danach insbesondere: 'die Begehung von Straftaten durch Angehörige ethnisch abgeschotteter Subkulturen. Sie ist bestimmt von verwandtschaftlichen Beziehungen, einer gemeinsamen ethnischen Herkunft und einem hohen Maß an Abschottung der Täter, wodurch die Tatbegehung gefördert oder die Aufklärung der Tat erschwert wird. Dies geht einher mit einer eigenen Werteordnung und der grundsätzlichen Ablehnung der deutschen Rechtsordnung. Dabei kann Clankriminalität einen oder mehrere der folgenden Indikatoren aufweisen:
- eine starke Ausrichtung auf die zumeist patriarchalisch-hierarchisch geprägte Familienstruktur,
- eine mangelnde Integrationsbereitschaft mit Aspekten einer räumlichen Konzentration,
- das Provozieren von Eskalationen auch bei nichtigen Anlässen oder geringfügigen Rechtsverstößen,
- die Ausnutzung gruppenimmanenter Mobilisierungs- und Bedrohungspotenziale.'" [1]

Der Süddeutschen Zeitung zufolge schlägt das Bundesinnenministerium vor, künftig "Angehörige von kriminellen Clans auch dann abzuschieben, wenn diese keine Straftaten begangen haben". [2] Das widerspricht allerdings fundamental den Menschenrechten und dem im Grundgesetz verankerten Rechtsstaatsprinzip. Ausgewiesen zu werden, obgleich man sich nichts zuschulden kommen ließ, dürfte daher kaum mit unserer Verfassung in Einklang zu bringen sein. Das wäre nämlich eine Sanktion allein aufgrund von Verwandtschaftsverhältnissen, früher nannte man das Sippenhaft. Sippenhaft ist "eine Form der Kollektivhaftung und bedeutet die Pflicht der engeren oder auch weiteren Verwandtschaft, für die Schuld eines oder mehrerer Angehöriger einzustehen". (Wikipedia) Im Rechtsstaat gilt freilich das Schuldprinzip: Nur der wird bestraft, der gegen das Gesetz verstoßen hat - und kein anderer. "Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe." (§ 46 StGB) Die Betonung liegt auf "des Täters", da steht nichts von Angehörigen (wie auch immer man die definieren mag).

Die Anpassung an die AfD ist erschreckend. Ein Gesetzentwurf der AfD aus dem Jahr 2018 sah vor, den Bundesinnenminister zu ermächtigen, "eine Liste der kriminell besonders auffälligen Familien zu führen". [3] Und bei der "Einbürgerung muss es der Behörde auch ermöglicht werden, den familiären Hintergrund des Antragstellers mit in ihre Prüfung einbeziehen zu können. Insbesondere muss ausgeschlossen werden, dass der Antragsteller aus einer Familienkonstellation stammt, in der insbesondere schwere, organisierte Kriminalität ausgeübt worden ist". Wobei die AfD damals wohlgemerkt nur die Ausländer ausweisen wollte, die selbst straffällig geworden sind und von denen eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht.

Die anderen Parteien empörten sich zu Recht: Der Gesetzentwurf bedeute den "Gang in den Unrechtsstaat", wetterte der CDU-Abgeordnete Alex Müller. Jürgen Martens von der FDP lehnte die von der AfD vorgesehene "Liste der kriminell besonders auffälligen Familien" vehement ab, denn sie sei die "Wiederauferstehung der Sippenhaft". Dem schloss sich Helge Lindh von der SPD an, er "warf der AfD vor, wieder die 'Idee einer Sippenhaft' einführen zu wollen. Wer ihren Gesetzentwurf lese, wisse, 'wohin die Reise mit der AfD geht und in welchen Unrechtsstaat wir uns bewegen'". [4] Das Plenarprotokoll vermerkte: "Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Lachen bei der AfD."

Nun will Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) offenbar sogar über die Forderung der AfD hinausgehen und auch unbescholtene Verwandte von kriminellen Ausländern ausweisen. Unfassbar! Die damalige Aufregung über die Sippenhaft? Verschwunden. Das Ansinnen des BMI ist bezeichnend für die Ratlosigkeit im Umgang mit der Bedrohung der Demokratie. Und zudem die absolut falsche Reaktion auf das gegenwärtige Umfragehoch der Rechten, denn ihre Programmatik teilweise zu übernehmen, hilft am Ende nur den Feinden der Demokratie. Schließlich kann sich AfD bequem zurücklehnen. Motto: "Läuft doch prächtig." Obendrein ist die Sippenhaft unvereinbar mit dem Rechtsstaat, wir kannten sie bislang nur aus Diktaturen, beispielsweise der NS-Zeit. 2018 sahen das offenkundig auch die anderen Parteien so, nur hat sich das anscheinend geändert.

Die Demokratie zu bewahren wird nicht gelingen, wenn man sie peu à peu demontiert. Die Erfahrung lehrt: Man muss standhaft bleiben und zu seinen Überzeugungen stehen. Die Feinde der Demokratie beschwichtigen zu wollen, ist ebenso sinnlos wie kontraproduktiv.

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[1] Deutscher Bundestag, Einzelfragen zum Begriff der "Clankriminalität", PDF-Datei mit 133 KB
[2] Süddeutsche vom 06.08.2023 (Paywall)
[3] Deutscher Bundestag, Drucksache 19/5040 vom 16.10.2018, PDF-Datei mit 557 KB
[4] Deutscher Bundestag, Übrige Fraktionen lehnen AfD-Vorschläge zum Straf- und Ausländerrecht ab