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14. August 2023, von Michael Schöfer
Kein guter Verbündeter


"Es gibt weiterhin Fälle, in denen deutsche Staatsangehörige willkürlich festgenommen, mit einer Ausreisesperre belegt oder an der Einreise in die Türkei gehindert werden", schreibt das Auswärtige Amt in seinen Reise- und Sicherheitshinweisen über den Nato-Mitgliedstaat Türkei. "Den Strafverfolgungsmaßnahmen liegt in vielen Fällen der Verdacht der Propaganda für, die Unterstützung von oder die Mitgliedschaft in einer als terroristisch eingestuften Organisation zu Grunde (…). Die türkischen Strafverfolgungsbehörden führen offenbar umfangreiche Listen von Personen mit Wohnsitz in Deutschland, die auch ohne hinreichende Vorermittlungen zum Ziel von Strafverfolgungsmaßnahmen werden können. Aufgrund des weit gefassten Terrorismusbegriffs in der Türkei, der aus Sicht des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte rechtsstaatswidrig ist, können z. B. bloße Äußerungen, das Teilen, Kommentieren oder 'Liken' von Beiträgen in sozialen Medien, die in Deutschland vom Grundrecht der freien Meinungsäußerung gedeckt sind, für eine Strafverfolgung ausreichen." [1]

Die Bundestagsabgeordnete Gökay Akbulut (Die Linke) wurde am 3. August 2023 bei ihrer Einreise in die Türkei am Flughafen Antalya festgenommen, obgleich sie einen Diplomatenpass besitzt. Grund: Social-Media-Beiträge aus dem Jahr 2019, die die türkische Staatsanwaltschaft in Kayseri als "Terrorpropaganda" auslegt. [2] Das, was Akbulut passierte, kann jedem anderen deutschen Staatsbürger genauso passieren. "Ein normaler deutscher Badeurlauber habe nichts zu befürchten", versicherte zwar die türkische Regierung 2019 [3], doch wer will dafür schon die Hand ins Feuer legen? Was "normal" ist, entscheidet die Türkei ohnehin ganz nach eigenem Gusto. Vor kurzem wurde dort sogar ein portugiesischer Tourist festgenommen und 20 Tage lang inhaftiert, angeblich weil er nach Ansicht von Polizisten "schwul" aussah. [4] Homosexuelle sind in der Türkei anscheinend nicht "normal". Und es reicht offenbar schon, einen entsprechenden Eindruck zu erwecken. Ob man tatsächlich homosexuell ist oder nicht, spielt dabei keine Rolle.

Ein Social-Media-Post, in dem man den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan als "Autokrat" bezeichnet, was er nun mal unstreitig ist, dürfte bereits für eine Anzeige wegen Präsidentenbeleidigung ausreichen. Wer sich dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) anschließt und der türkischen Justiz willkürliches Handeln vorwirft, riskiert ebenfalls eine Festnahme. Irgendein Gummiparagraph wird sich schon finden lassen, etwa der berühmt-berüchtigte Artikel 301 des türkischen Strafgesetzbuches: Wer öffentlich die Regierung der Republik Türkei und die Justizorgane des Staates beleidigt… Mitte 2023 waren 130 deutsche Staatsangehörige entweder in der Türkei inhaftiert oder mit einer Ausreisesperre belegt. Das ergab eine Anfrage von … Gökay Akbulut! [5] Aber das hat natürlich mit ihrer Festnahme überhaupt nichts zu tun. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Noch einmal der Hinweis des Auswärtigen Amtes: "Die türkischen Strafverfolgungsbehörden führen offenbar umfangreiche Listen von Personen mit Wohnsitz in Deutschland." Türkische Staatsanwälte surfen eben gern im Internet.

Die Türkei ist kein guter Nato-Verbündeter und sollte kein Mitglied der Europäischen Union werden. "Die Parteien dieses Vertrags bekräftigen erneut ihren Glauben an die Ziele und Grundsätze der Satzung der Vereinten Nationen und ihren Wunsch, mit allen Völkern und Regierungen in Frieden zu leben. Sie sind entschlossen, die Freiheit, das gemeinsame Erbe und die Zivilisation ihrer Völker, die auf den Grundsätzen der Demokratie, der Freiheit der Person und der Herrschaft des Rechts beruhen, zu gewährleisten", heißt es in der Präambel des Nordatlantikvertrags. Die Türkei ist dem Bündnis 1952 beigetreten - militärisch, aber nicht dem Geiste nach. Rechtsstaatlichkeit, Einhaltung der Menschenrechte und Demokratie gehören auch zu den Grundwerten der Europäischen Union. Diese Prinzipien werden von der Türkei bekanntlich seit langem missachtet. Jeder, der das anprangert, läuft Gefahr, bei der Einreise so wie Gökay Akbulut behandelt zu werden. Selbst dann, wenn er bloß zum Badeurlaub nach Antalya fliegt. Und zum Leidwesen der Betroffenen dürften die wenigsten Badeurlauber Diplomatenpässe besitzen.

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[1] Auswärtiges Amt, Türkei: Reise- und Sicherheitshinweise
[2] heise.de vom 14.08.2023
[3] Stuttgarter Nachrichten vom 07.08.2019
[4] Frankfurter Rundschau vom 20.07.2023
[5] Der Tagesspiegel vom 11.06.2023