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| Impressum 19. August 2023, von Michael Schöfer Hätten wir doch bloß schneller reagiert und mehr gemacht In der Politik unterliegt man nicht selten krassen Fehleinschätzungen, mit Blick auf Wladimir Putin ist das bei Deutschland im Allgemeinen und bei der SPD im Besonderen ziemlich gründlich danebengegangen. Selbstverständlich wäre es pharisäerhaft, jetzt rückblickend so zu tun, als habe man schon von jeher zu den Mahnern gehört, das können nur die wenigsten für sich beanspruchen. Die Wahrheit ist: Wladimir Putin hat viele geschickt getäuscht, aber es haben sich auch viele bereitwillig täuschen lassen. Kaum jemand dürfte diesbezüglich ein reines Gewissen haben. So ist das nun mal: Shit happens. Man darf und soll aus Schaden klug werden. Schlimm ist freilich, wenn man aus seinen Fehlern nicht lernen will, sondern sie ständig aufs Neue wiederholt. Beim SPD-Politiker Ralf Stegner scheint diese Lernresistenz besonders ausgeprägt zu sein. Kurz nach Kriegsbeginn sprach sich Stegner gegen die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine aus: "'Die Frage, ob man Waffen liefert, ist keine moralische.' Wichtig sei, ob man denke, dass der Krieg so eine gute Wendung nehmen könne. Dazu stellte Stegner mehrmals klar, dass Russland die zweitgrößte Atommacht und das größte Land der Welt sei. 'Die Ukraine hat überhaupt gar keine Chance gegen Russland.'" [1] "Er befürchte, dass es bei einem weiter andauernden Krieg vor allem mehr zivile Opfer geben werde. 'Das ist der Teil, der mich sehr umtreibt, dass viele, viele Menschen sterben.' Es sei wichtig, jede weitere Eskalation des Krieges zu verhindern, auch die Nato dürfe nicht in den Konflikt hineingezogen werden." [2] Der SPD-Politiker äußerte auch "Zweifel am Sinn einer Lieferung von Leopard-Panzern" [3], sprach sich gegen die Lieferung von F 16-Kampfjets [4] und ebenso gegen die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern [5] aus. Ständig warnt Stegner vor dem Dritten Weltkrieg, will deshalb eine weitere Eskalation vermeiden und ruft zu diplomatischen Initiativen auf. Nur bleibt er bislang die Antwort schuldig, wie und worüber man konkret mit Putin verhandeln kann. Stegner erinnert dabei ein bisschen an Neville Chamberlain. Von konsequentem Handeln keine Spur, es ist immer das gleiche Muster: Erst wird lange darüber debattiert, am Ende liefert der Westen dann doch, aber was die militärische Notwendigkeit angeht leider viel zu spät. Der ausbleibende Erfolg der ukrainischen Gegenoffensive liegt nach Ansicht von Militärexperten auch daran, "dass westliche Waffen viel zu spät oder gar nicht geliefert wurden". [6] Das habe den russischen Truppen die Gelegenheit verschafft, ihre Stellungen in den besetzten Gebieten auszubauen, gegen die die Ukraine jetzt mühsam und verlustreich anrennen muss. Hätte der Westen früher und umfangreicher geliefert, hätte die Ukraine Ende 2022 das Momentum ihrer Kriegserfolge wahrscheinlich besser nutzen können. Ralf Stegner, der Bremser, trägt daran unbestreitbar eine Mitschuld. Genauso unverständlich ist, dass der Westen noch immer Kapazitätsprobleme bei der Herstellung von Waffen und Munition hat. Wohlgemerkt, eineinhalb Jahre nach Kriegsbeginn. Demgegenüber arbeitet die russische Rüstungsindustrie angeblich rund um die Uhr - trotz der Sanktionen. Eigentlich müsste doch die Produktionskapazität der westlichen Industrie viel leistungsfähiger sein. Alles in allem schwere Versäumnisse. Ralf Stegner hat zumindest in einem recht: Der Konflikt wird sich kaum militärisch entscheiden, sondern vielmehr politisch. Aber gerade auf dem Feld der Diplomatie gibt es, nach allem was die Öffentlichkeit derzeit weiß, keine erfolgversprechenden Ansätze. Putins Aggression darf sich nicht lohnen, doch nach dem gegenwärtigen Frontverlauf wäre genau das der Fall, selbst wenn der Diktator dadurch nur einen Teil seiner ursprünglichen Pläne verwirklichen könnte. Wenn uns die Geschichte eines lehrt, dann dies: Diktatoren darf man nicht einmal den kleinen Finger geben, weil sie anschließend nach der ganzen Hand greifen. Das Münchner Abkommen von 1938 war keine Garantie für den Frieden, die britisch-französischen Zugeständnisse zuungunsten der Tschechoslowakei interpretierte Hitler auf Seiten seiner Kontrahenten als Angst vor der Auseinandersetzung und somit als Freibrief für weitere Aktionen, was letztlich in den Zweiten Weltkrieg führte. Gerade das, was man verhindern wollte, wurde dadurch unausweichlich. Schon aus unserem Eigeninteresse heraus gilt daher: Es darf kein zweites München - diesmal zuungusten der Ukraine - geben. Man muss Diktatoren vielmehr Einhalt gebieten und sie notfalls auf dem Schlachtfeld schlagen, so schlimm das Ganze in der Realität auch aussieht. Doch zu letzterem muss man der Ukraine auch die dafür notwendigen Mittel bereitstellen. Setzt Putin in der Ukraine seinen Willen durch, wird das restliche Europa nicht mehr lange von weiteren Kriegen verschont bleiben, und dann müssen wir gezwungenermaßen selbst kämpfen. Es sei denn, wir kapitulieren und unterwerfen uns. Putin wird bekanntlich im Oktober 71 Jahre alt. Wie lange wird uns der Diktator, der seine großrussischen Träume noch zu Lebzeiten realisieren will, weil er sich dadurch historisch auf einer Ebene mit Peter dem Großen und Katharina II. stehen sieht, wohl noch Zeit geben? Vermutlich wird es dann wie beim Klimawandel heißen: Ach, hätten wir doch bloß schneller reagiert und mehr gemacht. ----------
[1]
ZDF vom 03.03.2022
[2]
RND vom 21.04.2022
[3]
Deutschlandfunk vom 12.01.2023
[4]
Die Welt vom 16.01.2023
[5]
Deutschlandfunk vom 04.08.2023
[6] Süddeutsche vom 14.08.2023
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