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16. August 2023, von Michael Schöfer
Man kann Putin nicht über den Weg trauen


Ältere werden sich gewiss noch daran erinnern, wie schwer sich viele Deutsche nach 1945 taten, die Realitäten anzuerkennen. Dass Westdeutschland die sogenannte Oder-Neiße-Linie als polnische Westgrenze völkerrechtlich anerkennt, wollten sie lange Zeit nicht akzeptieren. Zu meiner Schulzeit in den sechziger/siebziger Jahren wurde Deutschland in den Schulbüchern noch in den Grenzen von 1937 dargestellt, was sogar das ehemalige Ostpreußen (heute Russland/Oblast Kaliningrad) umfasste. Die Konservativen fanden sich erst im Zwei-plus-Vier-Vertrag endgültig mit den kriegsbedingten Gebietsverlusten ab, dabei hatte Deutschland den Zweiten Weltkrieg begonnen. Anders hätte es auch keine Wiedervereinigung gegeben.

Eine Äußerung aus dem Umfeld von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, für eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine seien im Gegenzug Gebietsabtretungen an Russland denkbar, hat nun zu Recht viel Staub aufgewirbelt. Natürlich werden immer alle Optionen durchgespielt, allerdings sind gerade Gebietsabtretungen hochproblematisch. Erstens darf nichts über die Köpfe der Ukrainer hinweg entschieden werden, zweitens darf man Putin für seine militärische Aggression nicht auch noch belohnen, und drittens würde man das verlogene Verbrecher-Regime in Moskau damit politisch stabilisieren. Doch selbst wenn die Ukraine in den sauren Apfel beißen würde, wer garantiert eigentlich, dass der Diktator seine großrussischen Träume nicht trotzdem weiterverfolgt?

Mit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf die Ukraine hat Russland gegen zahlreiche Verträge verstoßen (UN-Charta, Schlussakte von Helsinki, Budapester Memorandum, NATO-Russland-Grundakte, Regelungen des humanitären Völkerrechts, Minsker Abkommen), wer kann angesichts dessen noch darauf vertrauen, dass Moskau einen wie auch immer gearteten Friedensvertrag tatsächlich einhält? Keiner.