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26. August 2023, von Michael Schöfer
Das Zurückweichen der säkularen Gesellschaft


Ein Hund spürt instinktiv, ob man Angst vor ihm hat. Und falls die Angst berechtigt ist, etwa weil es sich um einen aggressiven Bullterrier handelt, muss man natürlich handeln. Frage: Dürfen Menschen künftig nur noch mit entsprechender Schutzkleidung aus dem Haus gehen oder müssen Kampfhunde angeleint sein und einen Maulkorb tragen? Natürlich letzteres, werden die meisten antworten. Das ist auch vernünftig, denn im vorliegenden Falls gilt das Verursacherprinzip. Der, der Angst verbreitet, trägt die Schuld und muss Schutzmaßnahmen treffen. Nicht der, der sich ängstigt.

Kurioserweise entscheidet sich Dänemark für die andere Lösung. Künftig gilt dort das öffentliche Verbrennen des Korans als Straftat, berichtet die Frankfurter Rundschau: "Der Gesetzentwurf sehe ein Verbot der 'unangemessenen Behandlung von Gegenständen von erheblicher religiöser Bedeutung für eine Religionsgemeinschaft' vor (...). Der Entwurf gelte auch für andere heilige Schriften wie die Bibel oder die Thora und für religiöse Symbole wie das Kreuz. Er umfasse auch das Zertrampeln oder sonstige Schändungen dieser Gegenstände in der Öffentlichkeit, nicht aber satirische Veröffentlichungen. Bei Verstößen gegen das Gesetz sollen bis zu zwei Jahre Gefängnis drohen." [1]

Begründet wird das geplante Verbot mit den gewalttätigen Protesten in muslimisch geprägten Ländern, die durch Koranverbrennungen in Dänemark und Schweden ausgelöst wurden. Einzelpersonen beriefen sich auf das Recht der Meinungs- und Demonstrationsfreiheit, was bislang auch die öffentliche Verbrennung des Korans umfasste. Ich habe ja kürzlich deutlich gemacht, was ich generell von Bücherverbrennungen halte. [2] Nichts. Ich habe aber auch deutlich gemacht, was ich von angeblich "heiligen" Büchern halte. Genauso wenig, denn letztlich sind alle Bücher rational betrachtet nur bedrucktes Papier.

Durch das Gesetz entstehen gewaltige Definitionsprobleme:

Erstens: Was ist eine Religionsgemeinschaft? Sind das bloß die großen, anerkannten Weltreligionen? Oder gilt das auch für die, die man gemeinhin als Sekten bezeichnet?

Zweitens: Falls Religionsgemeinschaften regional begrenzt sind: Wie groß muss deren Einflussgebiet sein?

Drittens: Erstreckt sich die "Heiligkeit" auch auf Gegenstände ausgestorbener Religionsgemeinschaften, z.B. die Darstellungen der altägyptischen Göttin Isis? Oder werden nur Gegenstände von aktuell praktizierten Religionen geschützt?

Viertens: Wie wird unter der Fülle von Religionen konkret ausgewählt? Ab welcher Anhängerzahl fällt eine Religionsgemeinschaft unter den Schutz des Gesetzes? Und bis zu welcher nicht?

Fünftens: Wie wird über die Ernsthaftigkeit einer Religion entschieden? Das Gesetz wird doch hoffentlich eine Religionsgemeinschaft wie die des "Fliegenden Spaghettimonsters" nicht diskriminieren. Oder etwa doch? Wie steht der Gesetzgeber zum Schamanismus? Darf sich wenigstens der Bärenkult Hoffnung auf Anerkennung machen? Und können sich Rechtsradikale erfolgreich auf den germanischen Gott Odin berufen?

Gesetze müssen eine klare Grenze ziehen, ab der für jeden vernünftigen Bürger die Schwelle zur Übertretung erkennbar ist. "Der Grundsatz der Rechtssicherheit ist ein Kerngehalt des Rechtsstaatsprinzips. Rechtssicherheit beruht auf dem Anspruch der Klarheit, Beständigkeit, Vorhersehbarkeit und Gewährleistung von Rechtsnormen sowie die an diese gebundenen konkreten Rechtspflichten und Berechtigungen. Es ist Teil der elementaren Basis einer rechtsstaatlichen Gesellschaftsordnung." [3] Ein Ladendieb weiß daher ganz genau, wann er eine Straftat begeht.

Das bedeutet: Gesetze dürfen nicht willkürlich auslegbar sein. Willkürlich auslegbare Gesetze sind normalerweise ein Charakteristikum von Autokratien und haben in Demokratien nichts zu suchen. Ob und wie das geplante Gesetz die angesprochenen Definitionsprobleme löst, bleibt vorerst ungewiss. Und das Ganze muss dann auch noch gerichtsfest sein und einer verfassungsrechtlichen Prüfung standhalten. Daran darf man mit Fug und Recht zweifeln, schließlich leben zumindest wir im Westen in einer aufgeklärten Welt, Religion ist eine reine Privatangelegenheit. Dieser Kampf hat lange gedauert und viele Opfer gekostet, er darf nicht umsonst gewesen sein.

Noch schlimmer: Der Staat legt im Grunde mit dem Gesetz die Definitionsmacht, was von erheblicher religiöser Bedeutung ist, allein in die Hände solcher Religionsgemeinschaften. Oder soll vielleicht ein Kopenhagener Gericht definieren, was für Hindus in Indien von erheblicher religiöser Bedeutung ist? Ist beispielsweise das Zeigen der Bhagavad Gita im Zusammenhang mit einer Sexszene eine strafbewehrte "unangemessenen Behandlung" oder "sonstige Schändung"? [4] Da kann man dem Richter schon jetzt viel Spaß bei der Anwendung des Gesetzes wünschen.

Es heißt, man müsse die religiösen Gefühle anderer respektieren und dürfe sie nicht beleidigen. Stimmt, das gehört zum zivilisierten Umgang unter Menschen, aber gesetzlich vorschreiben und mit Strafandrohung erzwingen kann man das nicht. Toleranz ist keine Einbahnstraße: Wenn Religiöse bestimmte Bücher und Symbole als "heilig" bezeichnen, muss man das natürlich akzeptieren. Doch diese Zuschreibung gilt nur für sie selbst, umgekehrt haben Religiöse keinen Anspruch darauf, dass ihre Überzeugung von anderen geteilt wird. Und sie dürfen dann auch nicht beleidigt sein, wenn Andersdenkende etwa am Koran partout keine Heiligkeit erkennen wollen. Religiöse Vorschriften sind relativ, sie gelten bloß für den, der sie freiwillig übernimmt. Allgemeinverbindlich sind nur die weltlichen Gesetze, Demokratien sind per se pluralistisch, der Staat demzufolge weltanschaulich neutral.

Am allerschlimmsten finde ich jedoch, dass man in Dänemark vor der Gewaltandrohung einknickt. Wie erbärmlich! Das Gesetz kommt nämlich nur, weil man Angst vor Terroranschlägen hat. Der Koran selbst dürfte den Politikern völlig gleichgültig sein. Die Absurdität ist offenkundig: Es werden nicht die fanatischen Religionsanhänger bekämpft, vielmehr signalisieren ihre potenziellen Opfer, dass sie sich vorbeugend unterwerfen. Wo bleibt da bitteschön das Verursacherprinzip? Wer instinktiv die Angst des anderen spürt, wird die Situation gnadenlos auszureizen versuchen. Wir sollten uns nichts vormachen: Das Gesetz bedeutet das Zurückweichen der säkularen Gesellschaft vor dem - in den Augen der Fanatiker - grenzenlosen Machtanspruch einer Religion. Und hat man damit erst einmal angefangen, wo hört das Ganze dann wieder auf? Die Grenzen des Mach- und Sagbaren werden sich so peu à peu zuungunsten der Freiheit verschieben. Dagegen gibt es nur ein Mittel: Die eigenen Werte standhaft verteidigen, was immer auch kommen mag. Und niemals aufgeben!

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[1] Frankfurter Rundschau vom 25.08.2023
[2] siehe Bücherverbrennungen vom 31.07.2023
[3] Wikipedia, Rechtssicherheit
[4] Der Standard vom 26.07.2023