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02. September 2023, von Michael Schöfer
...und am Ende gewinnt die FDP


Mit der FDP kann man nicht regieren. Einen Tag nach der Kabinettsklausur auf Schloss Meseberg, auf der sich die Ampelregierung vornahm, künftig geräuschloser zu regieren, grätscht die FDP abermals dazwischen: FDP-Generalsekretärs Bijan Djir-Sarai kündigte an, dass nun mit der Ausweitung des Sozialstaats Schluss sei, es dürfe keine "weitere Umverteilung" mehr geben. [1] Die FDP-Bundestagsfraktion wiederum will "den Rückbau der noch einsatzfähigen Kernkraftwerke stoppen" und fordert sogar den Neubau von Kernkraftwerken. SPD und Grüne können das nur als Provokation interpretieren, vermutlich waren diese Absichtserklärungen auch genauso gemeint. Der geneigte Beobachter greift sich an den Kopf.

Wenn sich der aggressive Kurs für die FDP wenigstens lohnen würde, könnte man das Ganze als Parteiegoismus in Reinkultur abtun, doch das ständige Dazwischengrätschen zahlt sich für sie gar nicht aus: In den Wahlumfragen krebst die "Partei der sozialen Kälte" momentan bei sechs oder sieben Prozent herum, bei der Bundestagswahl 2021 waren es mit 11,5 Prozent noch fast doppelt so viel. Letztlich ist das ständige Dazwischengrätschen für die FDP selbstzerstörerisch. Das wenig partnerschaftliche Verhalten schadet aber der Regierungskoalition insgesamt, trotzdem sind die Liberalen anscheinend vollkommen lernresistent. Zur Erinnerung: 2013 sind sie schon einmal aus der Regierung heraus direkt im parlamentarischen Abseits gelandet, zuvor warfen sich die schwarz-gelben Koalitionäre gegenseitig so schmeichelhafte Komplimente wie "Wildsau" und "Gurkentruppe" an den Kopf. Die Quittung folgte auf dem Fuße: 4,8 Prozent für die FDP. Jetzt greift sie erneut zur Kamikaze-Taktik. Ob es diesmal gutgeht?

Diese Kamikaze-Taktik ist ebenso widersprüchlich wie unsinnig. 2011 stimmte der Deutsche Bundestag aus gutem Grund mit überwältigender Mehrheit für den Atomausstieg, kurz vorher war nämlich im japanischen Fukushima das dortige Kernkraftwerk explodiert, in drei Blöcken kam es zur gefürchteten Kernschmelze. Der ultimative Super-Gau, allenfalls noch mit dem Atomunfall in Tschernobyl vergleichbar. Unmittelbar danach wollten 86 Prozent der Bürgerinnen und Bürger möglichst schnell raus aus der Atomkraft [2], diesem nahezu einhelligen Wunsch der Bevölkerung mussten die Parteien gezwungenermaßen folgen. In der Bundestagsdebatte versprach deshalb der FDP-Abgeordnete Michael Kauch hoch und heilig: "In diesem Konzept gibt es klare Enddaten. Die Bürgerinnen und Bürger sowie die Unternehmen können sich darauf verlassen: Es gibt einen klaren Fahrplan." Gemeint war das Ausstiegskonzept der schwarz-gelben Bundesregierung (Kabinett Merkel II), die ohne diesen Rettungsanker ihre Felle davonschwimmen sah. Der Schock saß den Regierenden tief in den Knochen: Kernkraftbefürworter Stefan Mappus verlor im März 2011 bei der Landtagswahl nach 58 Jahren ununterbrochener Regierungszeit seiner Partei das CDU-Stammland Baden-Württemberg an Winfried Kretschmann, im "Ländle" wurden CDU und FDP erstmals gemeinsam auf die Oppositionsbänke verbannt. Die Urangst der Konservativen, dass ihnen eines Tages der Himmel auf den Kopf fallen könnte, hatte sich bewahrheitet.

513 von 600 Bundestagsabgeordneten stimmten für den Atomausstieg, darunter fast die gesamte FDP-Fraktion. Laut Plenarprotokoll der namentlichen Abstimmung auch Christian Lindner (heute Bundesfinanzminister), Volker Wissing (heute Bundesverkehrsminister), Marco Buschmann (heute Bundesjustizminister) und Bijan Djir-Sarai (heute FDP-Generalsekretär). Lediglich zwei FDP-Bundestagsabgeordnete stimmten mit Nein. [3] Und nun sollen sich die Bürgerinnen und Bürger plötzlich nicht mehr auf die versprochenen "klaren Enddaten" und den "klaren Fahrplan" verlassen können? Wenn es nach dem Willen der jetzigen FDP-Führungsmannschaft ginge, die freilich damals dem Atomausstieg zugestimmt hat, wären die Zusagen obsolet. Sie denken vielleicht: Man kann doch sein Fähnchen nicht ständig in den Wind hängen und jedes Mal anders entscheiden, irgendwann muss ein Thema endgültig ad acta gelegt werden. Falsch gedacht, zumindest die FDP kann es. Ist das gnadenloser Opportunismus? Oder skrupellose Wählerverarschung? Welchen Eindruck das beim Wahlvolk hinterlässt, bleibt abzuwarten.

Schon allein aus ökonomischen Gründen wird es keine Renaissance der Atomkraft geben, erfahrungsgemäß laufen nämlich die Kosten und die Bauzeiten bei neuen Kernkraftwerken gewaltig aus dem Ruder und vervielfachen sich. Beispiel Kernkraftwerk Olkiluoto in Finnland: Block 3 wurde 2003 ausgeschrieben, der Bau begann im Jahr 2005, als Kaufpreis hatte man 3 Mrd. Euro vereinbart, die Fertigstellung war ursprünglich für 2009 vorgesehen. Anfang 2022 taxierte man die Kosten auf ungefähr 11 Mrd. Euro, zudem ging Olkiluoto III erst im April 2023 in den Regelbetrieb. Bei den Kosten (11 anstatt 3 Mrd. €) und bei der Bauzeit (18 anstatt 4 Jahre) verkalkulierte man sich gigantisch. Kernkraftwerk Flamanville in Frankreich dito, Kernkraftwerk Hinkley Point C in Großbritannien dito. Genaugenommen ein Fiasko. Vom sündhaft teuren Rückbau alter Meiler und der nach wie vor ungelösten Endlagerung des Atommülls ganz zu schweigen. Dass die FDP die ökonomische Rationalität, die sie normalerweise als ausschlaggebend bezeichnet, ausgerechnet beim Thema Atomkraft außer Acht lässt, ist höchst verwunderlich, aber keineswegs überraschend. Die Renaissance der Atomkraft ist selbst für Liberale eine hochideologische Angelegenheit.

Beim Thema Gerechtigkeit sieht es ähnlich aus: Dem ARD-Deutschlandtrend zufolge widersprechen satte 83 Prozent der Befragten der Aussage, der Wohlstand in Deutschland sei gerecht verteilt. [4]



Die FDP schwimmt dennoch konsequent gegen den Strom, nicht umsonst genießt sie den Ruf, ihre Hauptaufgabe in der Klientelpolitik zu sehen (Begünstigung von Partikularinteressen unter Ausklammerung des Gemeinwohls). Umverteilung ist in ihren Augen nutzloser Firlefanz. "Der Kapitalismus hat, gestützt auf Wettbewerb und Leistungswillen des Einzelnen, zu großen wirtschaftlichen Erfolgen, aber auch zu gesellschaftlicher Ungerechtigkeit geführt. (…) Versorgung aller Bevölkerungsgruppen mit ausreichendem Wohnraum und humaner Städtebau müssen Hauptziele der Bodenpolitik sein. (…) Den Gemeinden muß eine angemessene Bodenvorratspolitik ermöglicht werden. Der Anwendungsbereich des besonderen Vorkaufsrechts soll auch auf Flächen außerhalb von Bebauungsplänen erweitert werden. Das gemeindliche Grunderwerbsrecht ist auszuweiten. (…) Umweltschutz hat Vorrang vor Gewinnstreben und persönlichem Nutzen. Umweltschädigung ist kriminelles Unrecht." Wer hat's geschrieben? Die SPD? Die Grünen? Die Linke? Nein, die FDP! Und zwar in den Freiburger Thesen von 1971. [5] Lang, lang ist's her. Und für die heutige marktradikale FDP völlig undenkbar. Dementsprechend blockiert sie nach Kräften eine Korrektur der sozialen Spaltung der Gesellschaft, die wirksame Reform des Miet- und Bodenrechts sowie eine konsequentere Umweltpolitik.

Mit dieser FDP können SPD und Grüne nicht regieren, ihr fast schon als obszön zu bezeichnendes Agieren im Interesse der Besserverdienenden beschädigt das Ansehen der gesamten Bundesregierung. Diese ständige Quertreiberei, dieses sture Blockieren sinnvoller Lösungen streut viel zu viel Sand ins Getriebe. Unausweichliche Folge: Der Regierungsbetrieb stockt erkennbar. Hinzu kommt die unbegreifliche Nachgiebigkeit der größeren Regierungspartner, beispielsweise beim Klima- oder beim Mieterschutz. Das mag aus Gründen der Machtarithmetik nachvollziehbar sein, schließlich gibt es ohne die FDP keine Kanzlermehrheit, doch mittlerweile muss man sich gerade mit Blick auf die wachsenden Umfragewerte der AfD ernsthaft fragen, wohin das führen soll. Auch wenn die Ziele der Rechtspopulisten, anders als von ihren Anhängern unterstellt [6], keineswegs sozial sind, ist - siehe oben - die erdrückende Ungleichheit ein Riesenproblem. Und zweifellos eine Gefahr für die Demokratie. Es wird deshalb höchste Zeit, der aufreizend selbstsicheren FDP endlich mehr Widerstand entgegenzusetzen, sie hat den Bogen eindeutig überspannt.

Der frühere Fußballspieler Gary Lineker sagte nach der Niederlage Englands gegen die Deutschen im Halbfinale der Fußballweltmeisterschaft 1990: "Fußball ist ein einfaches Spiel: 22 Männer jagen 90 Minuten lang einem Ball nach, und am Ende gewinnen die Deutschen." Was sich inzwischen, Bundestrainer Hansi Flick bedauert es bestimmt am allermeisten, grundlegend geändert hat. Auf deutsche Verhältnisse übertragen könnte man formulieren: "Politik ist eine einfache Sache: Ein Kanzler, 16 Bundesminister, drei Fraktionen und drei Parteien streiten sich wochenlang über den richtigen Regierungskurs, und am Ende gewinnt die FDP." Bedauerlicherweise besitzt diese Aussage, im Gegensatz zum Bonmot von Gary Lineker, nach wie vor Gültigkeit.

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[1] ntv vom 31.08.2023
[2] Infratest dimap, ARD-Deutschlandtrend April 2011, PDF-Datei mit 382 KB
[3] Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht, 117. Sitzung vom 30.06.2011, PDF-Datei mit 3,1 MB
[4] tagesschau.de vom 31.08.2023
[5] FDP Damme, Freiburger Thesen zur Gesellschaftspolitik, beschlossen auf dem Bundesparteitag der Freien Demokratischen Partei in Freiburg vom 25./27. Oktober 1971, PDF-Datei mit 676 KB
[6] DIW vom 21.08.2023, Das AfD-Paradox: Die Hauptleidtragenden der AfD-Politik wären ihre eigenen Wähler*innen, PDF-Datei mit 332 KB