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06. September 2023, von Michael Schöfer
Trenn dich!


Der österreichische Schriftsteller Karl-Markus Gauß ist Kolumnist der Süddeutschen Zeitung. Ein Freund sei gestorben, klagte er am vergangenen Freitag. Der Verstorbene ist fast vier Jahrzehnte als Kulturjournalist tätig gewesen, das Lesen von alter und neuester Literatur war seine Leidenschaft. Da sammelt sich natürlich im Laufe eines produktiven, von intellektuellen Interessen geprägten Lebens ziemlich viel Hardware an: Der Freund hinterließ eine Bibliothek von mehr als 6.000 Büchern - und niemand will sie haben, nicht einmal geschenkt. Gauß findet "es rätselhaft, dass die private Leidenschaft für Bücher und Büchersammlungen mittlerweile gar so gering geschätzt wird". [1]

Stimmt, früher hat sich das gutsituierte Bürgertum wenigstens noch eine repräsentative Bibliothek zugelegt, und sei es aus Prestigegründen (vulgo: Angeberei), doch damit kann man heutzutage niemanden mehr beeindrucken. Das Lesen von bedrucktem Papier ist anscheinend total out, angesichts von Smartphones, TikTok & Co. haben zumindest die Jüngeren ohnehin keine Zeit mehr dafür. Stellen Sie sich vor, Sie müssten mit 6.000 Büchern umziehen, womöglich noch ins 4. Obergeschoss (ohne Fahrstuhl), da würde selbst Sisyphus verzweifeln. Wenig verwunderlich, wenn belesene Eremiten in ihren bis zur Decke mit Regalen vollgestopften Wohnhöhlen ausharren, solange sie nur irgend können. Für die Bücher wäre im Pflegeheim sowieso kein Platz. Nun ist der Tod bekanntlich unabwendbar, die einst sorgsam zusammengestellte Bibliothek wird spätestens dann zu einer schwer zu bewältigenden Last für die Erben.

Die Lösung: Trenn dich! Trenn dich von allem, was dich belastet! Trenn dich von dem wertlosen Zeug! Noch zu Lebzeiten, versteht sich. Ich bin jetzt seit einem halben Jahr Rentner und habe zuerst die Schrumpf-Klamotten entsorgt, also die Kleidungstücke, die im Laufe der Jahre aus unerfindlichen Gründen um eine oder zwei Größen eingegangen sind. Damit Sie gleich Bescheid wissen: Wer behauptet, es gebe keine Schrumpf-Klamotten, ich hätte stattdessen zugenommen, IST EIN HUNDSGEMEINER LÜGNER. Wie dem auch sei, jedenfalls kam ein ansehnlicher Berg unnützer Kleidungstücke zusammen. Alles eigenhändig im Altkleidercontainer entsorgt.

Seit drei Wochen miste ich nun peu à peu meine Bibliothek aus. Zunächst dachte ich, das würde ich niemals übers Herz bringen, bei Büchern ist man ja aus rational nicht nachvollziehbaren Gründen besonders sentimental. Doch es geht, mittlerweile ist der Inhalt von zwei Regalbrettern in die Altpapiertonne gewandert. Man gewöhnt sich daran. Im Gegenteil, es macht mit der Zeit sogar Spaß, sich von dem ganzen Ballast zu befreien. Aufgehoben werden nur noch Bücher, die ich ein zweites Mal lesen würde und die mir wirklich ans Herz gewachsen sind, zum Beispiel "Die Hohenzollern und die Nazis" von Stephan Malinowski oder "Auf der Suche nach Schrödingers Katze" von John Gribbin. Aber definitiv nicht die Werke, die sich mit der Wirtschaftspolitik der achtziger Jahre befassen. Gähn!

Ist es nicht kurios: Erst arbeitet man mühselig, um das notwendige Kleingeld zu verdienen, mit dem man sich das alles kaufen kann. Und am Ende hängt es einem wie ein Mühlstein am Hals. Ein Glück, dass ich mich nicht selbst beerbe, denn so eine Haushaltsauflösung ist m.E. eine echte Horrorvorstellung. Wäre ich noch einmal jung, würde ich mir Bücher nur als E-Books zulegen, Videos und Musik lediglich streamen. Umziehen wäre erheblich leichter, und im Todesfall würden die Erben gewiss seltener fluchen. Schauen Sie ab und zu in Ihre Altpapiertonne - liegt ein verstaubtes Buch drin, könnte es von mir sein. Vielleicht interessiert es Sie ja wider Erwarten doch.

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[1] Süddeutsche vom 01.09.2023, Printausgabe, Seite 6