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08. September 2023, von Michael Schöfer
Sozialer Fortschritt kommt stets zur Unzeit


Mein Onkel Engelbert verbrachte sein ganzes Arbeitsleben bei der BASF in Ludwigshafen, begonnen hat er dort seine Ausbildung im Kaiserreich unter Wilhelm zwo. Onkel Engelbert ist schon lange tot, er starb hochbetagt, als ich noch jung war. Onkel Engelbert erzählte mir einmal, dass es anfangs überhaupt keinen bezahlten Urlaub gegeben habe, irgendwann gab es dann immerhin drei Tage. Wow, drei ganze Tage! Offenkundig ist die Welt zumindest dadurch nicht untergegangen, im Vergleich dazu haben zwei von Deutschland begonnene Weltkriege viel mehr Schaden angerichtet. Doch ich bin mir sicher, dass es seinerzeit Äußerungen gab, die genau das, den Weltuntergang durch zu viel Urlaub, an die Wand gemalt haben. Mittlerweile gibt es in den meisten Branchen 30 Tage Urlaub, das nennt man Fortschritt. Sozialen Fortschritt. Aber der kommt, jedenfalls wenn man Arbeitgebern, konservativen Politikern und manchen Journalisten Glauben schenkt, stets zur Unzeit.

Sozialer Fortschritt muss noch immer erkämpft werden, freiwillig bekommt man höchstens einen feuchten Händedruck (und in Zeiten der Pandemie Beifall von den Balkonen). Die Interessen der Arbeitnehmer wurden einst von den Gewerkschaften und den Sozialdemokraten vertreten, dass der Kapitalismus nicht mehr so menschenverachtend aussieht wie in Manchester Mitte des 19. Jahrhunderts, ist im Wesentlichen ihnen zu verdanken. Please never forget! Nun fordert die IG Metall neuerdings die Vier-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich, die Wochenarbeitszeit in der Stahlbranche soll von bisher 35 auf 32 Stunden reduziert werden. Und wie zum Gedenken an Iwan Petrowitsch Pawlow schlagen Arbeitgeber, arbeitgebernahe Ökonomen und konservative Politiker reflexartig die Hände über dem Kopf zusammen. "Die Forderung kommt völlig zur Unzeit", sagt beispielsweise der geschäftsführende Vorstand des Arbeitgeberverbands Stahl, der Bundesverband der Deutschen Industrie will die Arbeitszeit sogar auf 42 Stunden erhöhen. [1] "Wer glaubt, unser Wirtschaftsstandort bräuchte in dieser Krisenzeit eine Vier-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich, scheint in einer anderen Welt zu leben", wettert Julia Klöckner von der CDU. [2] Wie üblich, alles kommt zur Unzeit und ist vollkommen abwegig. Was sonst?

Lohnerhöhungen bei guter Konjunktur? Man darf den Aufschwung nicht abwürgen! Lohnerhöhungen bei schlechter Konjunktur? Man darf die Krise nicht verschärfen! Arbeitszeitverkürzung in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit? "Dumm, dreist und töricht!" (O-Ton Helmut Kohl im Jahr 1984). Arbeitszeitverkürzung in Zeiten niedriger Arbeitslosigkeit? Verschärft bloß den Fachkräftemangel! Gerne wird die generalisierende Aussage "Wir können uns das nicht leisten" verwendet, die passt ungeachtet der jeweiligen Situation. Zum Glück fordert niemand mehr die Rückkehr zur 72-Stunden-Woche, wie 1871 im Kaiserreich noch allgemein üblich. Ökonomisch relevant ist allerdings nicht der absolute Umfang der Wochenarbeitszeit, sondern die Arbeitsproduktivität je Erwerbstätigenstunde (was ein Arbeitnehmer je Stunde erwirtschaftet), und die ist hierzulande zwischen 2000 und 2022 um 22,4 Prozent gestiegen. [3]

Dass man solche Produktivitätsfortschritte im Interesse der Arbeitnehmer umverteilen kann (höhere Löhne, geringere Wochenarbeitszeiten) und die Volkswirtschaft dadurch nicht kollabiert, belegt ja die Geschichte. Umgekehrt wird ein Schuh draus: Produktivitätsfortschritte müssen sogar im Interesse der gesellschaftlichen Stabilität umverteilt werden. Das macht auch ökonomisch Sinn, denn Autos kaufen bekanntlich keine Autos. Die unterschiedlichen Interessen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern sind gewiss nicht immer leicht auszutarieren, aber die Haltung, sozialen Fortschritt jedes Mal als gerade unpassend zu bezeichnen, ist in meinen Augen einfältig. Deshalb ist diese Verhinderungstaktik leicht zu durchschauen.

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[1] tagesschau.de vom 06.04.2023
[2] CDU/CSU-Bundestagsfraktion vom 01.05.2023
[3] Statistisches Landesamt Baden-Württemberg, Arbeitsproduktivität