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11. September 2023, von Michael Schöfer
Bundesregierung präsentiert lückenhafte Übersetzung


Ärgerlich, total ärgerlich! In der von der Bundesregierung verbreiteten deutschen Übersetzung der G20-Gipfelerklärung [1] fehlen wichtige Passagen, etwa die im englischen Original enthaltenen Nummern 8 bis 14 bei "For the Planet, People, Peace and Prosperity" (Seite 2 und 3).

Wer sich auf die deutsche Übersetzung verließ, hat sich bestimmt gewundert, denn Bundeskanzler Olaf Scholz sprach von deutlichen Signalen in Richtung Moskau. "Die G20 haben erneut klare Worte gefunden. Die territoriale Integrität eines Staates wie die der Ukraine kann nicht mit Gewalt von seinem Nachbarn in Frage gestellt werden." [2] In der deutschen Übersetzung fand sich davon freilich nichts, lediglich der Verweis auf die Charta der Vereinten Nationen und die UN-Resolution 75/1, die allerdings bloß die Prinzipien der Charta bekräftigt und bereits im September 2020 (also vor Kriegsbeginn) beschlossen wurde. Durch die lückenhafte deutsche Übersetzung bekommt man den falschen Eindruck, dass die Ukraine in der Gipfelerklärung überhaupt nicht erwähnt wird und der Angriffskrieg vollkommen außen vor bleibt. Russland hätte dadurch einen Propagandaerfolg erzielt, das wäre für den Westen blamabel gewesen.

Doch zum Glück ist es nicht ganz so schlimm gekommen. Tatsächlich verweist das englische Originaldokument auf die UN-Resolutionen A/RES/ES-11/1 und A/RES/ES-11/6, in denen der russische Angriff verurteilt wird. Kann man in dieser indirekten Form gerade noch akzeptieren, ein paar Mausklicks und man weiß Bescheid. Im englischen Originaldokument findet sich auch der Hinweis auf "die Grundsätze des Völkerrechts, einschließlich der territorialen Integrität und Souveränität". Und wie erwartet bleibt die Ukraine nicht unerwähnt. Aber ausgerechnet diese Informationen bleiben Lesern der deutschen Übersetzung verwehrt.

Insofern hat Olaf Scholz, zumindest was die deutlichen Worte zum Ukrainekrieg angeht, recht. Dennoch: Ändert die Unterschrift von Außenminister Sergei Lawrow unter die Gipfelerklärung irgendetwas am russischen Angriff auf die Ukraine? Russland hat ohnehin schon gegen etliche völkerrechtlich bindende Verträge verstoßen. Eine weitere folgenlose Selbstverpflichtung ringt Kremlherrscher Putin bestenfalls ein müdes Lächeln ab, er bombt einfach unbeirrt weiter. Und falls China seine Ansprüche auf indisches Territorium irgendwann einmal mit Gewalt durchzusetzen versucht, dürfte auch Indiens Premier Narendra Modi sein bislang durchaus geschicktes Lavieren zwischen Ost und West rasch aufgeben. Hilfe gegen Peking hat er nämlich nur aus Washington zu erwarten, aber keinesfalls aus Moskau. Gelegentlich hat man den Eindruck, dass dies manchen Gipfelteilnehmern noch nicht bewusst ist.

Wie dem auch sei, wünschenswert wäre jedenfalls mehr Sorgfalt von Scholz' Mitarbeitern bei der Verbreitung von Dokumenten. Dass für den Westen wesentliche Textstellen in der deutschen Übersetzung übergangen werden, darf eigentlich nicht passieren. Mehr als bloß ein unbedeutender Lapsus, obgleich natürlich auch hier gilt: Shit happens.

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[1] Bundesregierung, Erklärung von New Delhi der Staats- und Regierungschefinnen und -chefs der G20, PDF-Datei mit 835 KB (korrigierte Übersetzung, abgerufen 21:14 Uhr)
[2] Bundesregierung vom 10.09.2023, G20-Gipfel in Indien: Ein neues Miteinander von Nord und Süd