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18. September 2023, von Michael Schöfer
Lampedusa


Obgleich nur ein Bruchteil der globalen Flüchtlingsströme nach Europa kommt, fühlen sich die reichen Europäer schnell überfordert. Das hängt auch damit zusammen, dass man untereinander nicht kooperiert und an Lebenslügen festhält. Nach Angaben des UNHCR (Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen) lag die Anzahl der Vertriebenen Ende 2022 weltweit bei 108,4 Millionen. [1] In der Europäischen Union wurden dagegen im ersten Halbjahr 2023 "lediglich" 519.000 Asylanträge gestellt, im Jahr 2022 waren es 966.000 (einschließlich Folgeanträge). [2] Das Gros der menschlichen Dramen ereignet sich weitab unserer Grenzen, doch das spielt in den Medien kaum eine Rolle. Was wir zu sehen bekommen, ist Lampedusa.

Lebenslüge Dublin-Verfahren: Laut EU-Verordnung ist in der Regel der EU-Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens verantwortlich, in den der Asylsuchende zuerst eingereist ist. Obwohl das naturgemäß die Mittelmeeranrainer aufgrund ihrer geografischen Lage besonders belastet, hat das lange Zeit nur wenige wirklich interessiert. Im Gegenteil, man war andernorts froh darüber. EU-Mitgliedstaaten ohne südliche EU-Außengrenze waren zumindest juristisch fein raus. In der Praxis wurden jedoch Flüchtlinge von den eigentlich zuständigen Mittelmeeranrainern oft ohne Registrierung einfach durchgereicht. Das ist verständlich, denn sie fühlten sich zu Recht alleingelassen. Da es unter den EU-Mitgliedstaaten keinen gerechten und für alle verbindlichen Verteilungsmechanismus gibt, ist das System offenkundig dysfunktional, trotzdem wird immer wieder darauf verwiesen. Ein ungerechtes, dysfunktionales System stellt aber keine geeignete Grundlage für politisches Handeln dar.

Lebenslüge dichte Grenzen: Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni fordert einen Militäreinsatz der Europäischen Union, "um die Menschen an der Überquerung des Mittelmeeres abzuhalten. Notfalls müsse die Marine eingesetzt werden, um Migrantenboote am Ablegen zu hindern". [3] Wie darf man sich das praktisch vorstellen? Will man die Souveränität von Tunesien missachten und in dessen Hoheitsgebiet eindringen? Will man Häfen oder Uferstreifen militärisch besetzen? Das wäre krass völkerrechtswidrig. Und falls trotz allem Boote ablegen, will man auf Flüchtlinge schießen oder die Boote vorsätzlich zum Kentern bringen? Das wäre nicht nur strafbar, sondern auch inhuman. Das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen macht zwar Seenotrettung zur Pflicht, bietet aber keine Handhabe für das Aufbringen von Flüchtlingsschiffen. Die EU hat bislang versucht, Autokraten mit Geld zu kaufen, um die Drecksarbeit ihnen zu überlassen, aber selbst das hat nur unzureichend funktioniert. Man wird sich daher wohl oder übel damit abfinden müssen, dass Seegrenzen anders als Landgrenzen nicht vollständig abzuriegeln sind.

Lebenslüge Obergrenze: CSU-Chef Markus Söder will eine Aufnahmebegrenzung auf höchstens 200.000 Migranten pro Jahr durchsetzen. Logisch, in Bayern ist Wahlkampf. Was er allerdings nicht verrät, ist, wie er das konkret durchsetzen will. Angenommen, der 200.001ste steht vor der Tür, was macht er dann mit ihm? Abschieben? Da spielen viele Herkunftsländer, falls die Staatsangehörigkeit überhaupt feststeht, gar nicht oder nur widerwillig mit. Die meisten Asylbewerber kommen derzeit aus Syrien, will er etwa Flüchtlinge dem Schlächter Baschar al-Assad ausliefern? Oder Afghanen wieder zu den fundamentalistischen Taliban zurückschicken? Holla, die Waldfee, sehr christlich! Davon abgesehen, Flüchtlinge haben einen vom Grundgesetz garantierten Rechtsanspruch auf Prüfung ihres Asylbegehrens, die ungeprüfte Zurückweisung (Pushback) ist dagegen rechtswidrig. Rechtliches Gehör und ein faires Verfahren sollte für Demokratien eigentlich der Mindeststandard sein, andernfalls entpuppt sich nämlich das Gerede über unsere Werte (Völkerrecht, Menschenrechte, Rechtsstaat etc.) als reine Phrasendrescherei.

Lebenslüge Verursacherprinzip: Die klimabedingten Folgen, die wir jetzt zu spüren beginnen, werden die Flüchtlingsströme in Zukunft wahrscheinlich noch viel stärker anschwellen lassen. Diesbezüglich dürfen sich die Industriestaaten nicht herausreden und vor ihrer Verantwortung drücken. Was die Nutzung von fossilen Brennstoffen angeht, steht Deutschland historisch gesehen immerhin auf Platz 4 der größten Klimasünder. Kriege und Armut tun wie gewohnt ihr Übriges. Mit anderen Worten: Das, was wir jetzt erleben, ist leider bloß der Auftakt. Und wir können das Ganze nur durch eine drastische Änderung unserer Politik wenigstens abzumildern versuchen. Flüchtlingsbewegungen ganz zu stoppen ist aber nur unter Preisgabe jeglicher Humanität möglich. Wollen wir das? Gehört das zu unserem Selbstbild?


Kumulierte CO2-Emissionen durch fossile Brennstoffe 1850 bis 2021 [4]

Gewiss, die Situation ist unbefriedigend. Aber wie auf anderen Politikfeldern (z.B. Ausbau der Erneuerbaren) hätten wir eben viel früher mit dem Umsteuern beginnen müssen. Dass wir erst jetzt ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz bekommen, ist nicht zuletzt dem hartnäckigen Widerstand von CDU und CSU geschuldet. Genau diejenigen, die nun neben der AfD am lautesten herumkrakeelen. Die Argumentation, wer legal zum Zweck der Arbeitsaufnahme einreisen darf, flüchtet nicht über den lebensgefährlichen Seeweg im Mittelmeer, stieß bei den Konservativen lange Zeit auf taube Ohren, Priorität hatte die Abwehr von Migranten. Lebenslügen holen jeden früher oder später ein. Wer, wie der CDU-Politiker Thorsten Frei, das Individualrecht auf Asyl gleich ganz abschaffen will, zieht aus der Krise jedenfalls die falschen Schlüsse. Solche Vorschläge sind nur Wasser auf die Mühlen der Feinde der Demokratie, und am Ende wird vielleicht tatsächlich auf Flüchtlinge geschossen.

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[1] UNHCR Deutschland
[2] Mediendienst Integration, Zahlen und Fakten
[3] tagesschau.de vom 16.09.2023
[4] Our World in Data, Cumulative CO2 emissions, CC BY 4.0-Lizenz