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29. September 2023, von Michael Schöfer
Es riecht nach 1933


Mit den gleichen dummen Fehlern wie damals. Und mit der gleichen Verzweiflung der entsetzten Demokraten, die das Ganze bloß hilflos von der Seitenauslinie beobachten können. "Ob bei Reformen auf europäischer Ebene oder bei der Einstufung der sicheren Herkunftsländer: Die Grünen sind in der Migrationspolitik ein Sicherheitsrisiko für das Land und erschweren durch realitätsferne Positionen konsequentes Regierungshandeln und parteiübergreifende Lösungen", verkündet FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai. [1] Es dürfte in Deutschland ein Novum sein, dass ein Teil der Regierung einen anderen Teil der Regierung als vermeintliches Sicherheitsrisiko in Misskredit bringt. Und es ist bezeichnend für die verrutschten Maßstäbe, dass die Grünen für den Versuch, das Völkerrecht zu beachten und die Menschenrechte zu verteidigen, angefeindet werden. Die Bewahrung demokratischer Prinzipien müsste eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, ist es aber offenkundig nicht.

Dabei schreibt die FDP in ihrem Bundestagswahlprogramm noch selbst: "Der diplomatische Einsatz für Freiheit, Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gehört für uns Freie Demokraten zum unverzichtbaren Teil einer erfolgreichen und glaubwürdigen Außenpolitik. (…) Für uns Freie Demokraten ist das Grundrecht auf Asyl für politisch Verfolgte unantastbar. Dazu gehört auch die politische Verfolgung aus religiösen Gründen oder aufgrund der sexuellen Identität. (…) Wir Freie Demokraten wollen eine Integrationspolitik, die Vielfalt begrüßt und daher Einwanderinnen und Einwanderer einlädt, Teil unserer Gesellschaft zu werden, ihnen aber auch eine eigene Integrationsleistung abverlangt." [2]

Dass nun seitens der FDP Druck gemacht wird, die Maghreb-Staaten Marokko, Algerien und Tunesien als sichere Herkunftsstaaten zu deklarieren, obgleich es dort zu schweren Menschenrechtsverletzungen kommt, widerspricht ihrem eigenen Wahlprogramm, denn im Maghreb sind etwa Homosexuelle starker Verfolgung ausgesetzt. Stichwort: Politische Verfolgung aufgrund der sexuellen Identität. Von der Unterdrückung Oppositioneller und der Einschränkung der Pressefreiheit ganz zu schweigen. Aber laut Djir-Sarai sind natürlich die Grünen die Bösen, bloß weil sie Prinzipien hochhalten, zu denen sich 2021 auch die FDP bekannte. Zumindest auf dem Papier, doch das ist ja bekanntlich geduldig.

"Die universellen Menschenrechte sind die Grundlage jeder liberalen und freien Gesellschaft und schaffen weltweit die Basis für Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Gerade in Krisenzeiten (...) geraten Menschenrechte international aber stärker unter Druck. Wir Freie Demokraten sind überzeugt, dass der Einsatz für Freiheit und Menschenrechte weltweit dringender denn je ist. Wir wollen, dass Deutschland beim Schutz der Menschenrechte eine Vorreiterrolle einnimmt und Führungsstärke zeigt. Für uns sind Menschenrechte nicht verhandelbar", heißt es im FDP-Bundestagswahlprogramm. [3] Hehre Ansprüche. Mit die Ersten, die unter dem Druck einknicken, sind jedoch ausgerechnet die Liberalen, die selbsternannten Hüter der Freiheit.

Keineswegs besser agiert die CDU, die unter ihrem erkennbar wenig talentierten Vorsitzenden ein geradezu erbärmliches Bild abgibt. "Die werden doch wahnsinnig, die Leute, wenn die sehen, dass 300.000 Asylbewerber abgelehnt sind, nicht ausreisen, die vollen Leistungen bekommen, die volle Heilfürsorge bekommen. Die sitzen beim Arzt und lassen sich die Zähne neu machen, und die deutschen Bürger nebendran kriegen keine Termine", polterte Friedrich Merz in einer Talkshow. Das ist nicht nur juristisch falsch, weil Asylbewerber in den ersten 18 Monaten ihres Aufenthalts lediglich bei akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen Anspruch auf Behandlung haben (vgl. § 4 Asylbewerberleistungsgesetz). Es stimmt laut Bundesärztekammer auch nicht, dass es überhaupt zu Terminproblemen bei den Zahnärzten kommt. [4]

CSU-Chef Markus Söder steht wegen seiner höchst fragwürdigen "Integrationsgrenze" (früher "Obergrenze" genannt) ebenfalls unter Populismus-Verdacht, weil er eigentlich genau wissen müsste, dass diese "Das Boot ist voll-Attitüde" dem individuellen Grundrecht auf Asyl widerspricht. Unerfüllbare Forderungen zu stellen, die gar nicht realisierbar sind, weil man dazu das Recht in die Tonne treten müsste, macht die Leute doch bloß kirre. Und dann wundert man sich, dass sie die AfD wählen. Mal ehrlich, habt ihr noch alle Tassen im Schrank?

Es riecht nach 1933. Damals haben die Konservativen und die Liberalen bei der Abwehr des Nationalsozialismus kläglich versagt. Heute kann man Merz, Söder, Lindner & Konsorten den berechtigten Vorwurf machen, nicht aus der Geschichte gelernt zu haben. Und wenn es so weitergeht, steht nicht nur die Demokratie auf dem Spiel, sondern langfristig auch der Frieden in Europa.

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[1] Tagesspiegel vom 24.09.2023
[2] FDP, Programm zur Bundestagswahl 2021, Seite 51, 57, 58, PDF-Datei mit 1,5 MB
[3] FDP, a.a.O., Seite 55
[4] tagesschau.de vom 28.09.2023