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19. Oktober 2023, von Michael Schöfer
Die Vernunft hat es extrem schwer


Es herrscht eine merkwürdige Stimmung im Land, Aggressivität liegt in der Luft. Und das hängt ausnahmsweise einmal nicht an Reichsbürgern, Impfgegnern, Querdenkern, Rechtsextremisten oder der AfD. Man hat es unheimlich schwer, wenn man auf den hinter der aktuellen Auseinandersetzung verborgenen Grundkonflikt im Nahen Osten aufmerksam machen will, so wie es beispielsweise der slowenische Philosoph Slavoj Zizek mit seiner Rede auf der Buchmesse versuchte. Jeder, der darauf hinweist, dass natürlich auch den Palästinensern die universellen Menschenrechte zustehen, steht schnell unter ungerechtfertigtem Antisemitismusverdacht. Und jeder, der darauf hinweist, dass für ihn die Anerkennung des Existenzrechts Israels eine unverzichtbare Voraussetzung ist, wird einseitige Parteinahme vorgeworfen, die blind sei gegenüber dem Leid der Palästinenser. Das erinnert mich an längst vergangene Zeiten, als in den siebziger Jahren hinter jedem Kritiker gleich ein Sympathisant der RAF vermutet wurde, da war die Stimmung genauso merkwürdig.

Die gewalttätigen Demonstrationen der Hamas-Unterstützer in Deutschland sind wirklich schlimm. Sofern rechtlich möglich, bitte alle ausweisen. In ihren Heimatländern sind Terror-Claqueure vielleicht willkommen. Absolut unerträglich sind jedoch die Angriffe auf jüdische Einrichtungen und die nur allzu verständliche Angst der Juden selbst. 78 Jahre nach Befreiung von Auschwitz! Unglaublich! Als ich kürzlich durch die Fußgängerzone meiner Stadt lief, stellte ich mir in Gedanken die Frage, ob ich mich trauen würde, eine Kippa zu tragen. (Hinweis: Knapp die Hälfte der Einwohner Mannheims hat einen Migrationshintergrund, obgleich davon nicht alle Muslime sind.) Ehrliche Antwort: Lieber nicht. Ich kann nachvollziehen, wenn sich Juden hierzulande bedroht fühlen und nach außen nicht zu erkennen geben wollen, welcher Religion sie angehören. Wer wird schon gern angespuckt oder gar körperlich attackiert? So etwas darf nicht passieren, ist aber leider bittere Realität im Jahr 2023.

In Zeiten, in denen die Emotionen hochschlagen, hat es die Vernunft extrem schwer. Doch was nützen die gegenseitigen Vorwürfe, wenn sie am Grundkonflikt nichts ändern? Natürlich weiß auch ich keine Lösung - außer der Zwei-Staaten-Lösung, die aber unter dem Eindruck der aktuellen Ereignisse unerreichbarer erscheint denn je. Und es fängt ja erst an, nach dem Beginn der israelischen Bodenoffensive werden wir nämlich noch viel, viel mehr hässliche Bilder sehen. Da ist der ungeklärte Angriff auf das Krankenhause Al-Ahli-Arabi in Gaza-Stadt bloß der Anfang. Krieg ist immer grausam, vor allem der unschuldigen Zivilbevölkerung gegenüber. Das wird die Stimmung noch mehr anheizen und womöglich andere Akteure mit hineinziehen. Aber soll Israel deswegen die Barbaren der Hamas schonen? Es ist zum Mäusemelken! Das ist buchstäblich die Wahl zwischen Pest und Cholera. Mir tun die Opfer des Massakers vom 7. Oktober leid, mir tut die Zivilbevölkerung im Gazastreifen leid, natürlich auch die von der Hamas Entführten sowie die israelischen Soldaten, die in Kürze ihr Leben riskieren. Kann man allen gleichzeitig gerecht werden? Ich fürchte, nicht. Und das kann einen innerlich zerreißen.

Schwer zu sagen, wie das Ganze ausgehen wird. Mit der Hamas habe ich jedenfalls nicht das geringste Mitleid. Ich würde mir wünschen, dass nach dem aktuellen Waffengang bei allen Beteiligten die Ernüchterung einsetzt, dass es so nun wirklich nicht mehr weitergehen kann. Es muss doch hüben wie drüben genug Vernünftige geben, um eine tragfähige und für beide Seiten akzeptable Lösung herbeizuführen. Andernfalls wird dieser Konflikt auch die nächsten einhundert Jahre weitergehen.