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20. Oktober 2023, von Michael Schöfer
Willkommen im Club


Ich habe ein Pseudonym, mit dem ich mich gelegentlich bei anderen Medien an Diskussionen beteilige, zum Beispiel auf der Website der altehrwürdigen Frankfurter Rundschau. Das ehedem führende linksliberale Blatt Deutschlands habe ich fast drei Jahrzehnte lang gelesen. Vorgestern hinterließ ich dort folgenden Kommentar (Anlass war die Rede von Slavoj Zizek auf der Buchmesse):

"Es gibt keine Rechtfertigung für das, was die Hamas getan hat. Punkt. Aber in Ostjerusalem und dem Westjordanland leben 3,1 Millionen Menschen - ohne eigenen Staat, ohne Staatsbürgerrechte in Israel, wegen der Besatzung ohne echte Selbstbestimmung (die Autonomiebehörde kontrolliert nur 18 % des Westjordanlandes allein), bedroht und enteignet durch jüdische Siedler, immer unter dem Damoklesschwert der völkerrechtswidrigen Annexion. Auch Palästinenser haben Menschenrechte, genauso wie Israelis. Und beide müssen sich ans Völkerrecht halten. Wenn man für das Westjordanland keine für beide Seiten akzeptable Lösung findet, wird es auch keinen Frieden geben."

Gestern habe ich festgestellt, dass der Kommentar von der Redaktion gelöscht wurde. Ich habe natürlich nachgefragt, warum die Löschung erfolgt ist, aber bislang noch keine Antwort erhalten. Offenbar wird im derzeit aufgeheiztem Klima schon die leiseste Kritik an Israel als antisemitisch oder als Hassrede diskreditiert, obgleich ich bloß Tatsachen geschildert habe. So wurde etwa die Annexion Ostjerusalems vom UN-Sicherheitsrat mehrfach als völkerrechtswidrig bezeichnet, ebenso die Besatzung und die Siedlungspolitik (UN-Resolution 242 vom 22.11.1967, UN-Resolution 476 vom 30.06.1980, UN-Resolution 478 vom 20.08.1980, UN-Resolution 497 vom 17.12.1981), was übrigens bis dato auch die Haltung der Bundesregierung ist. Der israelische Finanzminister Bezalel Smotrich sprach sich Anfang des Jahres dafür aus, die palästinensische Kleinstadt Huwara "auszuradieren". [1] Und Israels Annexionspläne im Westjordanland wurden 2020 weltweit heftig kritisiert (mit Ausnahme eines gewissen Donald Trump). [2] Ich halte daher die Löschung meines Kommentars für sehr bedenklich. Stichworte: Meinungsfreiheit, Zensur.

Vor kurzem habe ich noch abgewunken, wenn jemand behauptet hat, man dürfe hierzulande nicht mehr alles sagen. Nun stelle ich fest: Es stimmt tatsächlich. Zumindest partiell. Willkommen im Club. Ausgerechnet die vermeintlich seriöse Presse, die ständig Werte wie Meinungsfreiheit hochhält, beteiligt sich an der Cancel Culture. Und dann wundert sie sich, wenn ihr Renommee nachlässt, die Menschen weniger Zeitung lesen und sich stattdessen den Sozialen Medien zuwenden. Mein Gott, könnt ihr abweichende Meinungen wirklich so wenig ertragen?

Die freie Diskussion ist das Lebenselixier der Demokratie - zumindest in der Theorie. Ohne die Meinungs- und Pressefreiheit ist eine freiheitliche Gesellschaft schlechterdings nicht denkbar, sagt beispielsweise das Bundesverfassungsgericht. Ich hätte ja Verständnis, wenn mein Kommentar antisemitisch wäre, was er per definitionem nicht ist, oder falsche Tatsachenbehauptungen beinhalten würde. Doch weder ging es mir pauschal um "die Juden" als Religionsgruppe noch bestreite ich das Existenzrecht Israels. Es geht mir vielmehr um die universellen Menschenrechte, die allen zustehen, also Israelis genauso wie Palästinensern.

Ich finde, die Frankfurter Rundschau hat mit der Löschung der Demokratie einen Bärendienst erwiesen. Ich bin ja bestimmt nicht der Einzige, der von so etwas betroffen ist.

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[1] FAZ vom 01.03.2023
[2] Deutschlandfunk vom 20.06.2022

Nachtrag (21.10.2023):
Der Journalist, dessen Artikel ich kommentierte, schreibt mir: "Aus meiner Sicht bewegt sich Ihr Beitrag vollständig im Rahmen der zulässigen Diskussion." Allerdings ist er nicht für die Moderation der User-Kommentare auf der Website zuständig, kann mir also über die Gründe der Löschung keine Auskunft geben.