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22. Oktober 2023, von Michael Schöfer
Die üblichen Verwüstungen


"Es war bereits Sommer und das Getreide reif, da marschierten sie in Attika ein. (…) Sie errichteten ihr Lager und verwüsteten zuerst die Gegend von Eleusis und die thriasische Ebene (…). Dann zogen sie weiter, den Aigaleosberg zur Rechten, durch Kropia, bis sie in Acharnai eintrafen, dem größten Ort von Attika unter den so genannten Demoi. Dort machten sie Halt, legten ein Lager an, verblieben lange Zeit und richteten die üblichen Verwüstungen an." So schilderte der griechische Historiker Thukydides (ca. 454 bis 396 v. Chr.) eine Begebenheit aus dem ersten Kriegsjahr des Peloponnesischen Krieges (431 bis 404 v. Chr.).

Was die "üblichen Verwüstungen" angeht unterscheidet sich das antike Griechenland kaum vom Kriegsgeschehen unserer Tage: "Die Stadt brannten sie nieder und plünderten, was darin war." [1] Die Besiegten, soweit sie nicht vorher im Kampf gefallen waren, wurden verschleppt. Das trifft knapp 2.500 Jahre danach auch auf die Geschehnisse im Ukraine-Krieg oder Nahost-Konflikt zu. Die Waffentechnik mag sich seitdem gewandelt haben, die menschliche Grausamkeit und Niedertracht ist allerdings noch immer die gleiche.

Von daher ist es wenig verwunderlich, dass auch die älteste schriftliche Überlieferung der Griechen, die wohl im 8. oder 7. vorchristlichen Jahrhundert verfasste "Ilias", von einem Krieg handelt: Homer beschreibt darin einen Abschnitt des Trojanischen Krieges (13. oder 12. Jahrhundert v. Chr.), der bekanntlich mit dem Fall der Stadt endete.

"Ich unglücklicher Mann! Die tapfersten Söhn' erzeugt ich
Weit in Troja umher, und nun ist keiner mir übrig!" [2]

"Ein grässliches Gemetzel entstand unter den schlaftrunkenen und berauschten Trojanern; Feuerbrände wurden in ihre Wohnungen geschleudert, und bald loderten die Dächer über ihren Häuptern. (…) Jetzt erst füllte sich die eroberte Stadt recht mit Trümmern und Leichnamen. Halbtote und Verstümmelte krochen zwischen Leichen umher, nur hier und dort ward noch einem aufrecht Fliehenden die Lanze in den Rücken gestoßen." [3]

Ob der Trojanische Krieg tatsächlich stattgefunden hat, die Historizität der Ereignisse ist nach wie vor nicht zweifelsfrei belegt, kann man im vorliegenden Zusammenhang ignorieren. Krieg, das entnehmen wir auch den Überlieferungen anderer Kulturen, war offenbar schon von jeher ein wesentlicher Bestandteil der menschlichen Realität. Genauer: Der von Menschen gemachten Realität. Die Geschichte des Homo sapiens ist eine Abfolge von Gemetzeln, deren Blutspur - zumindest gefühlt - länger und breiter ist als der Mississippi. Und das Wehklagen der überlebenden Trojaner unterschied sich gewiss in nichts vom Wehklagen der Überlebenden des Massakers im israelischen Kibbuz Be’eri am 7. Oktober 2023. Wäre Leid eine Währung, besäßen die meisten Völker gewaltige Devisenreserven, weil immer fleißig aufs Konto eingezahlt wurde.

Gäbe es einen Gott, müsste er angesichts seiner gründlich missratenen Schöpfung Ozeane voller Tränen vergießen. Moderner formuliert: Man könnte Gott im Rahmen der Produkthaftung ohne Zweifel in Grund und Boden klagen. Sicherlich hat Gott überlegt, was er mit diesem "Zerstörer der Welten" anfangen soll, bedauerlicherweise ist er zu keinem abschließenden Ergebnis gekommen. Und deshalb schlachtet der Mensch nicht bloß fortwährend seinesgleichen ab, sondern verheert auch die übrige belebte Natur. Fünf große Massenaussterben hat unser Planet bislang gesehen [4], aber dieser kleine, von den Bäumen herabgestiegene Primat nimmt es locker mit Asteroideneinschlägen und Vulkanismus auf: Das gegenwärtig stattfindende sechste Massenaussterben geht ganz allein auf seine Kappe.

Gelegentlich ertappe ich mich bei dem bitterbösen Gedanken, er möge sich bitte rasch vom Acker machen. Gerne mit Hilfe eines kollektiven Suizids. Die Evolution wird auch diesen Rückschlag verkraften. Und wenn man sich die Nachrichten über die zahlreichen Konflikte, den forcierten Klimawandel und den gesellschaftlichen Zerfall ansieht, hat mich der Homo sapiens anscheinend erhört. Es kann ihm jedenfalls keiner nachsagen, er würde nicht mit aller Kraft darauf hinarbeiten. Die üblichen Verwüstungen eben. Die für ihn üblichen Verwüstungen.

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[1] Thukydides, Der Peloponnesische Krieg, Reclam-Ausgabe 2018, Seite 127 und 322
[2] Homer, Ilias/Odyssee, dtv München 1988, Seite 423
[3] Gustav Schwab, Die schönsten Sagen des klassischen Altertums, Seite 443
[4] National Geographic vom 02.10.2019
Ordovizisches Massenaussterben vor 444 Mio. Jahren
Massenaussterben im Devon vor 383 bis 359 Mio. Jahren
Massenaussterben am Ende des Perm vor 252 Mio. Jahren
Massenaussterben der Trias-Jura-Grenze vor 201 Mio. Jahren
Massenaussterben der Kreide-Paläogen-Grenze vor 66 Mio. Jahren