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25. Oktober 2023, von Michael Schöfer
Namenslisten sind ein Krisensymptom


Dass die Politik zunehmend von (volatilen) Stimmungen beeinflusst wird, zeigt der Zuspruch zu Namenslisten. In Österreich war das Wahlvolk von der "Liste Sebastian Kurz - die neue Volkspartei (ÖVP)" dermaßen begeistert, dass der damals 31-jährige Shootingstar 2017 sogar Bundeskanzler der Republik Österreich wurde. Dem kometenhaften Aufstieg folgte allerdings ein ebenso rascher Fall, heute steht der nach eigenen Aussagen komplett aus der Politik ausgestiegene "Altkanzler" in Wien wegen Falschaussage vor Gericht. Ausgang ungewiss. Es gilt die Unschuldsvermutung. Immer wieder gibt es Gerüchte, der frühere Bundeskanzler werde bei der Nationalratswahl 2024 mit einer "Liste Kurz" (diesmal ohne ÖVP) ein Comeback versuchen. Warten wir es ab.

Neuerdings wird auch die bundesdeutsche Parteienlandschaft durch eine Namensliste bereichert: Am Montag dieser Woche wurde die Gründung der Partei "Bündnis Sahra Wagenknecht" (BSW - Für Vernunft und Gerechtigkeit) angekündigt. Eine Abspaltung der Linken. Zur Bundeskanzlerin wird es wahrscheinlich nicht reichen, aber dem Meinungsforschungsinstitut INSA zufolge würde das "Bündnis Sahra Wagenknecht" bei Bundestagswahlen laut Umfrage satte 12 Prozent bekommen. [1] Aus dem Stand heraus. Das ist bemerkenswert für eine Partei, von der bislang lediglich bekannt ist, dass sie, was die Sozialpolitik angeht, irgendwie links und, was die Zuwanderungspolitik angeht, irgendwie rechts sein wird. Viel Vorschusslorbeeren, denn ein Parteiprogramm existiert bislang nicht.

Durchaus möglich, dass das BSW erfolgreich in eine Lücke stößt, weil sich ein erklecklicher Teil des Wahlvolks von keiner Partei mehr repräsentiert fühlt. Bestimmte Bevölkerungsgruppen sind in den Parlamenten stark unterrepräsentiert: "Fast ein Viertel der Bevölkerung in Deutschland hatte nach Angaben des Statistischen Bundesamtes im Jahr 2022 den Haupt- oder Volksschulabschluss. Das sind mehr als 20 Millionen Menschen, rund ein Drittel der Wahlberechtigten. Jedoch sitzen laut Datenhandbuch des Bundestags in dieser Legislaturperiode insgesamt nur 20 Volksvertreterinnen und -vertreter mit Hauptschulabschluss im Parlament." [2] 20 von 736 = jämmerliche 2,7 Prozent.

Dieses Missverhältnis spiegelt sich auch in den Kommunen wider, wo der Zugang für politisch Engagierte noch am leichtesten ist: "Mehr als Zweidrittel der Amts- und Mandatsträger*innen in den deutschen Großstädten verfügt über einen akademischen Abschluss (69 Prozent), d.h. über ein abgeschlossenes Studium, Promotion und/oder Habilitation (...). Demgegenüber hatten im Jahr 2018 18,5 Prozent der Bevölkerung einen Bachelor-, Master- oder Diplomabschluss sowie weitere 1,3 Prozent der Gesamtbevölkerung eine abgeschlossene Promotion." [3] Wenn die akademische Minderheit eine deutliche Mehrheit in den Volksvertretungen einnimmt und dort das Geschehen dominiert, ist die repräsentative Demokratie in Wahrheit alles andere als repräsentativ.

Da bekanntlich das Sein das Bewusstsein bestimmt, fällt die Politik entsprechend unausgewogen aus. Ist der Bau von bezahlbarem Wohnraum und der Mieterschutz vielleicht deshalb so desolat, weil die Abgeordneten vermutlich überwiegend Eigenheimbesitzer sind und sich der Rest von den üppigen Diäten locker eine exklusive Mietwohnung leisten kann? Schlagendes Beispiel: 284 Bundestagsabgeordnete von CDU/CSU und FDP klagten vor dem Bundesverfassungsgericht gegen den Berliner Mietendeckel, dieser wurde dann auch prompt im Frühjahr 2021 vom höchsten deutschen Gericht gekippt, weil dem Land Berlin laut Grundgesetz schlicht die Zuständigkeit für die Regulierung der Mieten fehlt, die liegt nämlich allein beim Bund.

Freude bei den Klägern, allerdings hat das Urteil auch die Wut der Betroffenen erhöht: "Wut auf die Zustände in unserem Land, die es erlauben, dass Menschen wie Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) den Kauf ihrer Villa wohl von der Sparkasse mit Krediten vollfinanzieren lassen, während Millionen Menschen mit monströsen monatlichen Mieten kämpfen; Wut auf Menschen wie CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak, der die Schuld für das Leid der Mieter:innen dem rot-rot-grünen Senat in die Schuhe schieben möchte - obwohl die CDU selbst kaum etwas für den Schutz der Mieter:innen tut." [4] Die Niederlage der CDU bei der Bundestagswahl im Herbst 2021 kam nicht von ungefähr.

Da aber auch die Wohnungspolitik der Ampelregierung keine Erfolge zeigt, profitiert davon vor allem die AfD (obgleich die, Kuriosum am Rande, insbesondere auf die Förderung von Wohneigentum setzt, das sich die meisten aber gar nicht leisten können). Doch egal, die Wut, den etablierten Parteien eins auszuwischen, siegt über die Vernunft. In diese Lücke könnte das "Bündnis Sahra Wagenknecht" stoßen. Ein Mix aus restriktiver Einwanderungspolitik und sozialer Wirtschaftspolitik könnte nicht nur Stimmen aus dem Teich der AfD angeln. Alles in allem sind Namenslisten, die sich stark auf eine Person konzentrieren, jedoch ein Krisensymptom. Wenn die Stimmabgabe hauptsächlich von der Sympathie zu einer Galionsfigur abhängt, und nicht vom Für und Wider zu sorgsam ausgearbeiteten Programmen, spricht viel für ein Versagen des politischen Systems. Ein Klima, das Populisten stark begünstigt.

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[1] merkur.de vom 23.10.2023
[2] taz vom 15.07.2023
[3] Heinrich Böll Stiftung, Studie "Vielfalt sucht Repräsentation. Amts- und Mandatsträger*innen in der Kommunalpolitik", Seite 29, PDF-Datei mit 7,3 MB
[4] taz vom 15.04.2021