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25. Oktober 2023, von Michael Schöfer
Diese Krise hat das Potenzial eines Weltenbrandes

Wie konnte David bloß in die Rolle Goliaths geraten? Die Stimmung ist aufgeheizt, doch es ist kontraproduktiv selbst berechtigte Einwände in die Nähe des Terrorismus zu rücken und als antisemitisch zu diskreditieren. Die Vereinten Nationen sind der Gerechtigkeit und der Achtung des Völkerrechts verpflichtet, der Generalsekretär hat gemäß Artikel 99 der UN-Charta u.a. folgende Aufgabe: "Der Generalsekretär kann die Aufmerksamkeit des Sicherheitsrats auf jede Angelegenheit lenken, die nach seinem Dafürhalten geeignet ist, die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit zu gefährden."

Nichts anderes hat der Portugiese António Guterres getan, beispielsweise im Juni 2023: "UN-Generalsekretär Antonio Guterres hat Israels rechts-religiöse Regierung aufgefordert, 'alle Siedlungsaktivitäten in den besetzten palästinensischen Gebieten unverzüglich und vollständig einzustellen'. Die Siedlungen stellten 'eine eklatante Verletzung des Völkerrechts' dar. 'Sie sind ein großes Hindernis für die Verwirklichung einer tragfähigen Zwei-Staaten-Lösung und eines gerechten, dauerhaften und umfassenden Friedens.'" [1] Wohlgemerkt, gut drei Monate vor dem bestialischen Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober.

Guterres kann sich dabei auf eine Reihe von UN-Resolutionen stützen, angefangen mit der Resolution 242 vom 22.11.1967. Der Sicherheitsrat beschloss damals einstimmig, dass sich die israelischen Streitkräfte aus den im Sechstagekrieg besetzten Gebieten zurückziehen müssen. Er betonte die "Unzulässigkeit des Gebietserwerbs durch Krieg (...), die territoriale Unversehrtheit und politische Unabhängigkeit eines jeden Staates in der Region und seines Rechts, innerhalb sicherer und anerkannter Grenzen frei von Androhungen oder Akten der Gewalt in Frieden zu leben". In der UN-Resolution 465 vom 01.03.1980 forderte der Sicherheitsrat Israel ebenfalls einstimmig auf, die Siedlungen in den besetzten Gebieten abzubauen. Israel hat das bislang ignoriert und stattdessen besetzte Gebiete annektiert sowie die Siedlungen im Westjordanland ausgebaut (1982 zog es sich aufgrund des Friedensvertrages mit Ägypten von der Sinai-Halbinsel zurück und verließ 2005 einseitig den Gazastreifen).

"Ich sage schon seit fast zwei Jahren, dass der UN-Generalsekretär den Terror unterstützt. Das ist keine einfache Situation. Heute erhielten wir die endgültige Bestätigung dafür, dass dieser Mann nicht als UN-Generalsekretär geeignet ist", schimpft der israelische UN-Botschafter Gilad Erdan. [2] Was hat die Wellen so hochschlagen lassen?

Guterres sagte in einer Rede vor dem Sicherheitsrat u.a. das:

"Ich habe die entsetzlichen und beispiellosen Terrorakte der Hamas vom 7. Oktober in Israel unmissverständlich verurteilt. Nichts kann die vorsätzliche Tötung, Verletzung und Entführung von Zivilisten rechtfertigen - oder den Abschuss von Raketen auf zivile Ziele. Alle Geiseln müssen menschlich behandelt und unverzüglich und ohne Bedingungen freigelassen werden. (…)
Es ist wichtig zu erkennen, dass die Angriffe der Hamas nicht in einem Vakuum stattfanden. Das palästinensische Volk hat 56 Jahre lang unter einer erdrückenden Besatzung gelitten. Es hat mit ansehen müssen, wie sein Land immer mehr von Siedlungen verschlungen und von Gewalt heimgesucht wurde, wie seine Wirtschaft unterdrückt, seine Menschen vertrieben und seine Häuser zerstört wurden. Ihre Hoffnungen auf eine politische Lösung für ihre Notlage haben sich in Luft aufgelöst.
Aber die Beschwerden des palästinensischen Volkes können die entsetzlichen Angriffe der Hamas nicht rechtfertigen. Und diese schrecklichen Angriffe können die kollektive Bestrafung des palästinensischen Volkes nicht rechtfertigen. Auch im Krieg gibt es Regeln. Wir müssen von allen Parteien verlangen, dass sie ihre Verpflichtungen nach dem humanitären Völkerrecht einhalten und respektieren, dass sie bei der Durchführung von Militäroperationen stets darauf achten, Zivilisten zu verschonen, dass sie Krankenhäuser respektieren und schützen und dass sie die Unverletzlichkeit von UN-Einrichtungen respektieren, in denen heute mehr als 600.000 Palästinenser untergebracht sind." [3]


Daraus kann man beim besten Willen keine Unterstützung des Terrors ableiten. Im Gegenteil, Guterres hat den Terroranschlag der Hamas klar und deutlich verurteilt. Und der Verweis aufs Völkerrecht gehört zu seinen Aufgaben. Aber offenbar hört jeder nur das, was er hören will. Guterres' Hinweis auf die völkerrechtswidrige Besatzung, die - siehe oben - durch die UN bereits seit 56 Jahren verurteilt wird, will Israel partout nicht hören. Und beim Hinweis auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel auch in Zeiten des Krieges sieht Israel gleich sein Recht auf Selbstverteidigung infrage gestellt. "Es ist an der Zeit, ihnen eine Lektion zu erteilen", poltert Gilad Erdan und meint damit die Vereinten Nationen, deren Mitarbeiter keine Visa mehr bekommen sollen. [4] Außerdem verlangt er den Rücktritt von Guterres. Sympathien erwirbt man anders.

Die Erregung ist zwar verständlich, aber es hilft keinem, wenn die Politiker die Situation noch zusätzlich anheizen und sich jede - auch sachliche - Kritik verbitten. Auf die Spitze trieb es Tally Gotliv, Knesset-Abgeordnete der Regierungspartei Likud, die auf X (vormals Twitter) den Einsatz von Atomwaffen im Gazastreifen forderte. [5] Das wäre dann sogar ein Kriegsverbrechen (Verwendung von Waffen, die geeignet sind, überflüssige Verletzungen oder unnötige Leiden zu verursachen, oder die ihrer Natur nach unterschiedslos wirken). Wenig verwunderlich, wenn sich António Guterres in diesem aggressiven und vergifteten Klima jede Menge ungerechtfertigte Vorwürfe anhören muss.

Wobei Guterres im Grunde nichts anderes gesagt hat als der frühere US-Präsident Barack Obama. Auch Obama weist auf das Völkerrecht hin und "dass es darauf ankommt, wie Israel diesen Kampf gegen die Hamas führt". Er betont das Existenzrecht Israels genauso wie das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser. Stichwort: Zwei-Staaten-Lösung. Und er warnt davor, "alle Palästinenser mit der Hamas oder anderen terroristischen Gruppen in einen Topf zu werfen". Man müsse sich "aktiv gegen Antisemitismus in all seinen Formen wehren", aber auch "anti-muslimische, anti-arabische oder anti-palästinensische Gefühle ablehnen". [6]

Dass die Stimmen der Vernunft momentan so wenig Gehör finden und zu allem Überfluss auch noch diffamiert werden, besorgt ungemein. Diese Krise hat das Potenzial eines Weltenbrandes.

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[1] tagesschau.de vom 20.06.2023
[2] tagesschau.de vom 25.10.2023
[3] United Nations, Pressemitteilung vom 24.10.2024, Übersetzung DeepL-Translator
[4] Die Zeit vom 25.10.2023
[5] merkur.de vom 11.10.2023
[6] Barack Obama, Thoughts on Israel and Gaza, Übersetzung DeepL-Translator