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07. November 2023, von Michael Schöfer
Da hätte ich ja gleich die CDU wählen können


Die Wählerinnen und Wähler hadern oft mit den von ihnen gewählten Politikern. Durchaus zu Recht, denn oft genug machen die Regierenden nach der Wahl das Gegenteil dessen, was sie vor der Wahl versprachen. Legendär ist beispielsweise die Agenda-Politik von Gerhard Schröder, die dem SPD-Wahlprogramm diametral widersprach: "Wir bekennen uns zur besonderen Verantwortung gegenüber den Schwächeren in unserer Gesellschaft. Deswegen wollen wir im Rahmen der Reform der Arbeitslosen- und Sozialhilfe keine Absenkung der zukünftigen Leistungen auf Sozialhilfeniveau." Dieses Zitat stammt aus dem SPD-Wahlprogramm zur Bundestagswahl vom 22. September 2002 (Hervorhebung durch den Verf.). Dessen ungeachtet erläuterte der damalige Bundeskanzler dem verblüfften Publikum ganze sechs Monate später in seiner berühmt-berüchtigten Rede vom 14. März 2003, "warum wir die Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenlegen werden, und zwar einheitlich auf einer Höhe (...), die in der Regel dem Niveau der Sozialhilfe entsprechen wird". Davon hat sich die SPD, die den Kurswechsel um 180 Grad gehorsam absegnete, nie wieder erholt.

Nun passiert das Gleiche bei den Grünen. Ausgerechnet die Umweltpartei stimmt der Aufweichung des Klimaschutzgesetzes zu. Eigentlich ein absolutes No-Go. Im Bundestagswahlprogramm 2021, stand auf Seite 19 das Gegenteil: "Wir werden das noch immer ungenügende Klimaschutzgesetz generationen- und budgetgerecht nachschärfen, jahres- und sektorenscharf ausbuchstabieren (...)." Nachschärfen, nicht aufweichen! Obwohl sie haftähnliche Asylzentren an den EU-Außengrenzen in ihrem Wahlprogramm 2021 ebenfalls strikt ablehnten (Seite 239), stimmten die Grünen in Brüssel einem Verfahren zu, das genau das vorsieht.

Und der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann setzt jetzt noch einen obendrauf, er schloss sich nämlich dem Vorschlag der unionsgeführten Bundesländer an, der fordert, "dass die Feststellung des Schutzstatus von Geflüchteten unter Achtung der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention zukünftig auch in Drittstaaten erfolgen soll". [1] Das bedeutet: Kein Asylverfahren in Deutschland, kein Asylverfahren in der EU, aber vielleicht eins im zentralafrikanischen Ruanda. Menschenrechtler greifen sich an den Kopf, Kretschmann ist das anscheinend schnurz.

An dem Vorschlag der Union ist vieles ungeklärt, insbesondere sind bislang - außer Albanien - keine Drittstaaten bereit, solche Asylverfahren auf ihrem Staatsgebiet durchzuführen. Es gibt eine Fülle an juristischen und praktischen Einwänden. Artikel 16 der Genfer Flüchtlingskonvention sagt: "Jeder Flüchtling hat in dem Gebiet der vertragschließenden Staaten freien und ungehinderten Zugang zu den Gerichten." Doch wie soll das über tausende von Kilometern funktionieren? Nach Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention wiederum hat jede Person das Recht auf ein faires Verfahren und die Vertretung durch einen Anwalt seiner Wahl. Wie will man das in Drittstaaten garantieren? Fliegen zum Beispiel Richter und Anwälte via Frankfurt/Main dorthin?

Man will die Flüchtlinge erst gar nicht in einen EU-Mitgliedstaat einreisen lassen, wenn sie also im Mittelmeer aufgegriffen werden, nach welchem Recht findet dann das Asylverfahren statt? Dem deutschen, dem französischen, dem ungarischen oder dem polnischen? All diese Fragen sind ungeklärt. Ebenso, ob sie überhaupt von den Gerichten gebilligt werden, schließlich haben die - hallo, Rechtsstaat! - bei alldem ein gewichtiges Wörtchen mitzureden. Eine britisch-ruandische Absichtserklärung über die Zusammenarbeit bei Asylverfahren wurde 2022 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gestoppt, der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge hielt das Abkommen für rechtswidrig, ein Berufungsgericht in London sah das genauso. (Hinweis: Das Abkommen sah vor, dass abgeschobene Flüchtlinge in Ruanda Asyl in Ruanda beantragen können, aber nicht in Ruanda Asyl in Großbritannien.) Wer garantiert die Sicherheit der Asylbewerber in den Drittstaaten, wer sorgt für ausreichende Ernährung und eine menschenwürdige Mindestausstattung mit Dingen des täglichen Bedarfs?

Als Wähler der Grünen kommt man sich veräppelt vor, denn dann hätte man ja gleich CDU wählen können. Gewiss, Politik beinhaltet auch die Notwendigkeit, in der politischen Praxis Kompromisse zu schließen. Aber es muss nichtsdestotrotz Prinzipien geben, die niemals irgendwelchen faulen Kompromissen zum Opfer fallen, Standards der Menschenrechte und des Rechtsstaat gehören meines Erachtens dazu. Menschenrechte gelten unterschiedslos für alle, wenn wir sie der politischen Opportunität zuliebe für einen bestimmten Teil der Menschen außer Kraft setzen, sind sie letztlich wertlos. Dass ein grüner Ministerpräsident da mitspielt, ist eine schwere Enttäuschung. Vor allem, weil ich ihn bei drei Landtagswahlen (2011, 2016, 2021) gewählt habe. Für mich als Wähler gilt künftig: Nie wieder Grüne! Anhänger der Grünen müssen sich inzwischen ernsthaft fragen, was die Regierungsbeteiligung am Ende tatsächlich bringt. Nun wird unerwarteterweise Realität, was bei mir äußerst selten vorkommt, ich muss Christian Lindner zustimmen: "Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren."

Die Politiker brauchen sich wirklich nicht zu wundern, wenn die Politikverdrossenheit steigt und das Wahlvolk sich angewidert abwendet. Wenn man weder ihren Versprechen noch dem Wahlprogramm ihrer Partei vertrauen kann, ist das die logische Konsequenz.

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[1] Spiegel-Online vom 06.11.2023

Nachtrag (15.11.2023):
Der Oberste Gerichtshof in London erklärte das Abkommen der britischen Regierung mit Ruanda für illegal. "Die fünfköpfige Richterschaft stellte sich damit einstimmig hinter ein Berufungsurteil vom Juni, das die Sicherheit der Asylsuchenden in Ruanda infrage gestellt hatte. Es gebe Grund zur Annahme eines realen Risikos, dass die Asylgesuche in Ruanda nicht angemessen bearbeitet würden, heißt es in der Erklärung des Gerichts. (...) Zudem könne man einem Versprechen Ruandas nicht trauen, Asylsuchende keiner Misshandlung auszusetzen. Das Gericht verwies dabei auf die schlechte Menschrechtsbilanz des Landes." [2]

[2] tagesschau.de vom 15.11.2023