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13. November 2023, von Michael Schöfer
Selbstverständlich völlig ideologiefrei


"Die Grünen müssen für die Zukunft an ihrer Kompromissfähigkeit arbeiten und ihre Politik an der Realität und nicht an ihren Ideologien ausrichten", twitterte der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz. Anlass war die Ankündigung des hessischen Ministerpräsidenten Boris Rhein (CDU), in seinem Bundesland künftig mit der SPD koalieren zu wollen. Ausgerechnet die CDU fordert die Abkehr von Ideologien? Das klingt verdächtig nach der "Haltet-den-Dieb"-Taktik. So setzt etwa die hessische CDU-Landtagsfraktion "beim Umwelt-, Klima- und Ressourcenschutz auf Freiwilligkeit und Nachhaltigkeit". [1] Doch gerade das ist pure Ideologie, denn Freiwilligkeit hat bekanntlich in puncto Klimaschutz kläglich versagt. Ohne verbindliche Regeln geht es nicht.

Deutschland steht zweifellos vor großen Herausforderungen: die Infrastruktur ist marode, die Digitalisierung in der öffentlichen Verwaltung oft noch "Neuland" (O-Ton Merkel) und bezahlbarer Wohnraum insbesondere in den Ballungsräumen Mangelware. Hätte Deutschland in den 16 Jahren unter einer CDU-Kanzlerin doch bloß nicht so viel verpennt. Und was beabsichtigt Boris Rhein? Er will "festschreiben, dass in staatlichen und öffentlich-rechtlichen Institutionen (wie Schulen, Universitäten, Rundfunk) auf das Gendern mit Sonderzeichen verzichtet wird und eine Orientierung am Rat der deutschen Sprache erfolgt". [2] Genau das Problem, das uns am allermeisten unter den Nägeln brennt. (Achtung: Ironie!)

Freiwilligkeit beim Klimaschutz, aber Verbote beim Gendern? Ach, wenn die Ideologie der CDU wenigstens in sich stimmig wäre, ist sie aber nicht. Außerdem, da die CDU so großen Wert auf sprachliche Genauigkeit legt: Der "Rat der deutschen Sprache" heißt offiziell "Rat für deutsche Rechtschreibung". Hätte sich auch schon bis zur hessischen CDU herumsprechen können, dort versperrt jedoch Ideologie offenbar den Blick aufs Wesentliche.

Die Bundes-CDU will Asylverfahren in Drittstaaten auslagern. Nun, wenn das keine Ideologie ist, was dann? Viele bezweifeln nämlich, dass das Ansinnen mit der Genfer Flüchtlingskonvention oder der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar ist. Rechtliches Gehör (vgl. Art. 103 Abs. 1 GG) und ein faires Verfahren (vgl. Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union) ist das mindeste, was man in einem Rechtsstaat erwarten kann. Von Jens Spahns Gerede über "physische Gewalt" gegenüber Migranten ganz zu schweigen. Aber wir können gerne, selbstverständlich völlig ideologiefrei, sämtliche Grundrechte zur Disposition stellen.

Immerhin erzielt die CDU einen spürbaren Effekt: Sie hilft mit letztlich unrealistischen Vorschlägen nur der AfD, woran sie im Grunde nicht interessiert sein kann. Oder etwa doch?

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[2] sensor-wiesbaden vom 10.11.2023