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15. November 2023, von Michael Schöfer
Darf Hessen das Gendern verbieten?


"Gleichzeitig werden wir festschreiben, dass in staatlichen und öffentlich-rechtlichen Institutionen (wie Schulen, Universitäten, Rundfunk) auf das Gendern mit Sonderzeichen verzichtet wird und eine Orientierung am Rat der deutschen Sprache erfolgt", steht unter Punkt 10 im Eckpunktepapier von CDU und SPD, das in Hessen die Grundlage der Koalitionsverhandlungen bildet. [1] Die Schulen fallen unstreitig in die Kulturhoheit der Länder, dort können also durchaus Inhalte vorgegeben werden. Doch in den Universitäten und Rundfunkanstalten gilt die von Artikel 5 Grundgesetz garantierte Wissenschafts- und Rundfunkfreiheit. Darf das Land Hessen vor diesem Hintergrund im öffentlich-rechtlichen Rundfunk überhaupt das Gendern verbieten bzw. die Form des Genderns vorschreiben?

Ich bin selbst kein Freund des Genderns, weil es meinem Sprachgefühl widerspricht. Mein Grundsatz: Jeder soll so reden dürfen, wie er es für richtig hält. Andererseits ist mir die Rundfunkfreiheit und Staatsferne des öffentlich-rechtlichen Rundfunks viel wert, denn sie ist, nicht zuletzt aus den schlimmen Erfahrungen der Nazi-Diktatur heraus (Gleichschaltung, personelle und inhaltliche Vorgaben), einer der Grundpfeiler unserer Demokratie. "Die Organisation des öffentlich-rechtlichen Rundfunks muss als Ausdruck des Gebots der Vielfaltsicherung dem Gebot der Staatsferne genügen. Danach ist der Einfluss der staatlichen und staatsnahen Mitglieder in den Aufsichtsgremien konsequent zu begrenzen", schreibt das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil vor. [2]

Der Staat darf "keinen bestimmenden Einfluss auf das Programm eines Rundfunkveranstalters ausüben", heißt es dort, der öffentlich-rechtliche Rundfunk habe vielmehr zu "inhaltlicher Vielfalt beizutragen". Zwar spricht sich in Meinungsumfragen eine Mehrheit der Bevölkerung gegen das Gendern aus, aber eben naturgemäß in einer pluralistischen Gesellschaft nicht alle. Die, die das Gendern für wichtig halten, müsste der öffentlich-rechtliche Rundfunk bei einem staatlich angeordneten Verbot jedoch zwangsweise ignorieren, was der verfassungsrechtlich vorgegebenen Vielfalt widerspräche.

Das Programmangebot muss "für neue Publikumsinteressen oder neue Inhalte und Formen offenbleiben", sagen die Karlsruher Richter. Das gilt selbstverständlich auch für die sprachliche Darbietung, da die Sprache einem beständigen Wandel unterliegt, von dem sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk nicht abkoppeln kann und darf. Außerdem wird ja im öffentlich-rechtlichen Rundfunk nicht durchgängig gegendert, sondern bislang bloß in einzelnen Sendebeiträgen, was allerdings in die Kompetenz der jeweils verantwortlichen Redaktion fällt. Obendrein ist das Gendern gut mit dem in Artikel 3 Grundgesetz niedergelegten Gleichstellungsgebot vereinbar.

Von daher frage ich mich ernsthaft: Dürfen die das? Darf Hessen beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk das Gendern untersagen? Trotz seiner verfassungsrechtlich garantierten Unabhängigkeit und Staatsferne? Daran habe ich starke Zweifel. Man darf gespannt sein, wie die schwarz-rote Hessenkoalition in spe das Ansinnen in ein Gesetz gießen wird, das den Anforderungen unserer Verfassung entspricht.

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[1] sensor-wiesbaden vom 10.11.2023
[2] BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 25. März 2014, 1 BvF 1/11 und 1 BvF 4/11