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17. November 2023, von Michael Schöfer
Das Urteil wird auch der Union noch auf die Füße fallen


Wow! Da hat das Bundesverfassungsgericht mit seiner Entscheidung über die Schuldenbremse der Ampelregierung aber eine schwer zu knackende Nuss auf den Kabinettstisch gelegt. Es gab ja von Anfang an Bedenken wegen der Schuldenbremse, weil etliche Ökonomen bereits damals davor warnten, dass künftig die Finanzierung von dringend notwendigen Investitionen über den Weg der Neuverschuldung unterbleiben müsse, was negative Auswirkungen habe: "Die von der Schuldenbremse angestrebte Einschränkung der noch verbliebenen Spielräume für eine antizyklische Makropolitik gefährdet (...) die gesamtwirtschaftliche Stabilität. (…) Wenn die Länder durch das Grundgesetz in Zukunft daran gehindert werden, sich für Zukunftsinvestitionen zu verschulden, besteht (...) die große Gefahr, dass die aktive Zukunftsvorsorge unter der Räder kommt. Es kann dann vielleicht erreicht werden, dass die Schulden nicht weiter ansteigen, aber um den Preis, dass zukünftige Generationen unzureichend ausgebildet sind, über eine abgewirtschaftete Infrastruktur verfügen und in einer schlechten Umwelt leben müssen." [1]

Doch konservative Ökonomen machten genauso Druck wie der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA): "Bund und Länder müssen sich auf eine Schuldenbremse für die öffentlichen Haushalte verständigen. Eine effektive Schuldenregel muss jetzt auf den Weg gebracht werden und darf nicht auf die nächste Legislaturperiode verschoben werden", forderten die Unternehmer 2009. "Für den Bund müssen nach Auffassung von BDI und BDA für die strukturelle Neuverschuldung künftig enge verfassungsrechtliche Grenzen und verbindliche Tilgungsregeln für neu aufgenommene Kredite gelten." [2] Die Grundgesetzänderung wurde im Bundestag mit den Stimmen der Großen Koalition aus Union und SPD beschlossen, Linke und Grüne stimmten dagegen, die FDP enthielt sich. [3]

Als 2019, ein Jahr vor Ausbruch der Corona-Pandemie, ein Konjunkturabschwung drohte (im Frühjahr sagten die Wirtschaftsinstitute ein Miniwachstum von 0,6 bis 0,8 % vorher), merkten plötzlich auch die Arbeitgeber, dass die Schuldenbremse vielleicht doch nicht das Gelbe vom Ei ist. Dieter Kempf, seinerzeit Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, kritisierte "den Mangel an Investitionen und das Festhalten an der Schuldenbremse. 'Wir sollten darüber diskutieren, ob größere Spielräume für Investitionen sinnvoll sind. Wir müssen die Risiken eines Wirtschaftsabschwungs bekämpfen, bevor er da ist.'" [4] Die "engen verfassungsrechtlichen Grenzen" drohten der Wirtschaft die Luft abzuschnüren wie ein Korsett. Tja, die Einsicht kam zehn Jahre zu spät. Blindlings Modeerscheinungen nachzurennen, kann sich bitter rächen.

Die Schuldenbremse sieht zwar Ausnahmen für eine "von der Normallage abweichende konjunkturelle Entwicklung" und "für Naturkatastrophen oder außergewöhnliche Notsituationen" vor, doch das gilt tatsächlich bloß im Ausnahmefall. Das Bundesverfassungsgericht sagt: "Durch das Attribut der Außergewöhnlichkeit der Notsituation kommt zugleich zum Ausdruck, dass nicht jede Beeinträchtigung der Wirtschaftsabläufe der Ausnahmeklausel (...) unterfällt. Insbesondere sind Beeinträchtigungen der Finanz- und Wirtschaftslage nicht schon dann ein Anwendungsfall dieser Norm, wenn es sich um bloße Auf- und Abschwungbewegungen eines zyklischen Konjunkturverlaufs handelt." [5]

Einen normalen konjunkturellen Abschwung zu bekämpfen, ist wegen der Schuldenbremse nur innerhalb des eng gesteckten Rahmens der Kreditobergrenze zulässig (0,35 % des BIP beim Bund, die Länder dürfen keine Kredite mehr aufnehmen). 2019 wäre das eine Neuverschuldung von 12,2 Mrd. Euro gewesen. Für die Bekämpfung eines konjunkturellen Abschwungs, der lediglich befürchtet wird oder sich am Horizont abzeichnet, gilt das genauso. Prophylaxe, wie von den Arbeitgebern in jenem Jahr gewünscht, ist also nur bedingt möglich. Es sei denn, man ist bereit, im Haushalt massiv umzuschichten, was wiederum viele Besitzstände tangiert.

Die Politik handelte bislang nach dem Motto: "Es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird." Notfalls tricksen wir eben ein bisschen. Ist doch nichts dabei, wenn wir nicht in Anspruch genommene Kreditermächtigungen zur Bewältigung der Corona-Pandemie kurzerhand umwidmen und zur Errichtung eines Sondervermögens "Energie- und Klimafonds" verwenden. Getreu des in Köln geltenden Rheinischen Grundgesetzes: "Et hätt noch emmer joot jejange." (Es ist bisher noch immer gut gegangen.) Ja, bis zum o.g. Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Jetzt ist das Kind in den Brunnen gefallen, der Bundesregierung fehlen satte 60 Milliarden Euro. Woher nehmen, wenn nicht stehlen? Die Schuldenbremse gilt. Punkt.

Eine Abschaffung oder Aufweichung der Schuldenbremse ist unwahrscheinlich, denn dazu fehlt es an der erforderlichen Mehrheit für die Grundgesetzänderung. Die Ampelregierung hat nun ein massives Problem: Steuererhöhungen? Da spielt die FDP nicht mit, sie fordert ja seit langem Steuersenkungen. Kürzungen der Ausgaben im Sozialbereich? Dürfte bei der SPD auf Widerstand stoßen. Kürzungen bei den Investitionen, insbesondere solchen zur Bekämpfung der Klimakatastrophe? Wäre für die Grünen der Super-GAU. Letzteres ist auch kaum nach dem Geschmack der Wirtschaft, denn die leidet ohnehin bereits unter der maroden Infrastruktur und braucht dringend Unterstützung beim Umbau hin zur Klimaneutralität. Doch ohne Planungssicherheit bei den staatlichen Zuschüssen wird das kaum gelingen.

Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz triumphiert zwar, was absolut verständlich ist, doch eine von der Union geführte Bundesregierung würde vor dem gleichen Problem stehen: Entweder Steuererhöhungen oder Ausgabenkürzungen beschließen, um die Schuldenbremse einzuhalten und gleichzeitig Spielraum für Investitionen zu gewinnen. Klar, sie kann natürlich nach dem Vorbild Angela Merkels das Land weiter vergammeln lassen, was allerdings, das nur zur Auffrischung des Kurzzeitgedächtnisses, im September 2021 in Berlin zum Machtwechsel führte. Marode Bundesbahn, bröckelnde Autobahnbrücken, verlotterte Bundeswehr, ausbleibende Digitalisierung der Verwaltung, Nichteinhaltung der Klimaziele, wachsende Wohnungsnot und beschämender Pflegenotstand - all das wurde vom Wahlvolk zu Recht abgestraft. Insofern wird das Urteil auch der Union noch auf die Füße fallen. Angesichts dessen kann man Friedrich Merz, sollte er jemals Kanzler werden, schon jetzt viel Spaß wünschen.

Das Gute am Urteil: Das Bundesverfassungsgericht hat der Politik auferlegt, bei Haushaltsbeschlüssen mit den Tricksereien aufzuhören und sich endlich ehrlich zu machen. Wenn Geld ausgegeben wird, muss klar sein, woher es kommt. Die Schuldenbremse trickreich zu umgehen, kommt jedenfalls nicht mehr infrage. Das mag nach einem unentwirrbaren Gordischen Knoten aussehen, doch das Problem ist, sofern sich die Parteien einigen, politisch lösbar. Und wenn angesichts des Wahlergebnisses nur Parteien miteinander koalieren können, die stark voneinander abweichende Ziele haben, müssen sie halt Kompromisse machen. Kategorische Aussagen wie "Steuererhöhungen? Niemals!" sind dabei wenig hilfreich. Gelingt das nicht, sind Neuwahlen unumgänglich. Das wäre allerdings der politische Offenbarungseid, von dem nur die Feinde der Demokratie profitieren dürften.

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[1] Hans Boeckler Stiftung vom 25.05.2009, Die Schuldenbremse gefährdet die gesamtwirtschaftliche Stabilität und die Zukunft unserer Kinder
[2] pressebox.de vom 04.02.2009
[3] Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 16/225, PDF-Datei mit 1,5 MB
[4] Focus vom 14.04.2019
[5] Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 15.11.2023, 2 BvF 1/22