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21. November 2023, von Michael Schöfer
Für wie doof haltet ihr uns eigentlich?


Warum werden so viele Rechtspopulisten gewählt, bei denen Beobachter vermutlich nicht ohne Grund daran zweifeln, dass sie noch alle Tassen im Schrank haben? Sind die Wähler wirklich so blind oder so dumm? Könnte beispielsweise der frisch gewählte argentinische Präsident Javier Milei (der selbsternannte "Anarchokapitalist" mit der Kettensäge) seine kruden Pläne tatsächlich verwirklichen, würden vor allem seine Wähler darunter leiden. Die dürften sich also demnächst noch wundern. Wahr ist allerdings auch, dass es die etablierten Parteien nicht fertiggebracht haben, die grassierende Armut wirksam zu bekämpfen (galoppierende Inflation, mehr als 40 % unter der Armutsgrenze, lange Schlangen vor den Suppenküchen).

Die Wut der Menschen ist daher verständlich, aber sie ist eben erfahrungsgemäß ein schlechter Ratgeber. Dessen ungeachtet spült sie fragwürdige Charaktere wie Milei und Trump nach oben, verhilft rechten Parteien wie der FPÖ und der AfD zu beängstigenden Wahlerfolgen. Der entsetzte Beobachter fragt verstört: Checken die Leute nicht, dass sie ihre eigenen Schlächter wählen? Auch hierzulande stoßen Wissenschaftler auf das gleiche Paradoxon wie in Argentinien: "Menschen, die die AfD unterstützen, würden am stärksten unter der AfD-Politik leiden." [1] Doch es genügt halt nicht, wenn das privilegierte Establishment an Feiertagen salbungsvolle Reden über Freiheit und Demokratie hält, aber im Alltag nichts gegen die zunehmende Zahl der Wohnungslosen und die horrenden Mietpreissteigerungen unternimmt. Den Menschen die Wut auszureden versuchen, sie aber ansonsten im Regen stehen lassen, wird der Demokratie kaum helfen.

Eine große Rolle spielt natürlich auch die Desinformation in den sozialen Medien. Beim aktuellen Nahost-Krieg etwa beklagt die Süddeutsche, dass sich so viele junge Menschen über Tiktok, Snapchat, Facebook, Youtube, Instagram oder X (ehedem Twitter) informieren und dort den gefälschten Videos, Bildern und Berichten auf den Leim gehen. Seriöse Berichterstattung und zuverlässige Informationen gebe es stattdessen in den Zeitungen. Mag sein, aber ein Zeitungsabonnement kostet eben auch (das SZ-Digital-Abo je nach Ausführung monatlich zwischen 14,99 € und 42,99 €), während die sozialen Medien kostenlos zur Verfügung stehen. Der Artikel über die Desinformation im Netz steht bei der Süddeutschen bezeichnenderweise hinter einer Paywall, die Angesprochenen werden ihn also kaum zur Kenntnis nehmen.

Klar, Journalisten müssen von irgendwas leben, doch im Internet gibt es seriöse Informationen fast nur noch gegen Bezahlung. Junge Menschen, die ohnehin wenig Geld haben, gewinnt man dadurch nicht. Im Gegenteil, man verliert sie an die Rattenfänger. Und da sich viele in den sozialen Medien radikalisieren, ist - wenig verwunderlich - unsere Demokratie in Gefahr. Nicht ohne Grund klagt die Deutsche Umwelthilfe (DUH) gegen Meta wegen den immer stärker werdenden Gewalt- und Morddrohungen auf Facebook. Aber auch dieser lesenswerte Artikel steht, Sie ahnen es bereits, hinter einer Paywall. Die Desinformation bekämpfen, das sagt sich halt so leicht. Schwierige Zeiten - und keine einfache Lösung in Sicht.

Meiner Meinung nach muss man die Probleme der Menschen lösen. Aber tatsächlich, nicht bloß mit unehrlichen Absichtserklärungen, von denen am Ende doch wieder die Besserverdienenden am meisten profitieren. Die FDP will die Sozialleistungen kürzen und blockiert eine stärkere Regulierung der Mieten. Die CDU wiederum will das Bürgergeld abschaffen und Menschen zur Arbeit zwingen. Und dann wundern sich alle, dass die AfD Erfolge feiert? Ernstgemeinte Frage: Für wie doof haltet ihr uns eigentlich?

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[1] DIW vom 21.08.2023