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25. November 2023, von Michael Schöfer
Von Konservativen und Marktradikalen ist Schlimmes zu erwarten


"Es geht eben nicht mehr alles", sagt der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz und schlägt vor, beim Bürgergeld und der Kindergrundsicherung kürzen. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Der Privatflugzeugbesitzer und ehemalige Einkommensmillionär (Merz 2018 zu Bild am Sonntag: "Heute verdiene ich eine Million Euro") will ausgerechnet bei den Ärmsten sparen. Das passt eigentlich gar nicht zum Image des sonst so empathisch auftretenden Politikers. (Achtung: Könnte Spuren von Ironie enthalten.)

Diese asoziale Einstellung ist typisch für das ignorante Establishment, das in den bürgerlichen/marktradikalen Parteien seit langem den Ton angibt. Auch Porsche-Fahrer Christian Lindner will ja die Sozialleistungen kürzen, wobei der FDP-Vorsitzende überdies ein gespaltenes Verhältnis zu Subventionen offenbart. Er kündigte aufgrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zur Schuldenbremse "erheblichen zusätzlichen Konsolidierungsbedarf" an ("wir werden mit weniger Geld wirksamere Politik machen müssen als im vergangenen Jahrzehnt") und ist der Auffassung: "Es wäre eine schlechte Nachricht, wenn das Wohl und Wehe der deutschen Wirtschaft von Subventionen des Staats abhängen würde." [1] Allerdings wollte er dennoch den vorübergehend reduzierten Mehrwertsteuersatz in der Gastronomie beibehalten, was nichts anderes ist als eine Steuersubvention. Es kommt also bei ihm immer darauf an, wer von Subventionen profitiert. Hauptsache, seine Klientel ist dabei.

Dabei gibt es ganz andere Strategien, mit denen man die klaffenden Haushaltslücken schließen könnte und dafür nicht einmal die bestehenden Gesetze ändern müsste. Nach einer Untersuchung der University of London betrug die Steuerhinterziehung in Deutschland im Jahr 2015 satte 125,1 Mrd. Euro. [2] Naturgemäß sind das nur Schätzungen, doch selbst wenn es bloß die Hälfte wäre, bräuchten sich die Finanzminister von Bund und Ländern keine Gedanken mehr über Kürzungen zu machen. Die konsequente Anwendung der bestehenden Gesetze genügt vollkommen. Legale Steuerschlupflöcher zu schließen, wäre ebenfalls eine gangbare Möglichkeit.

Doch das Engagement der Behörden, bei den Reichen für Transparenz und Ehrlichkeit zu sorgen, ist allem Anschein nach gering: Im Jahr 2021 wurden nach Angaben des Bundesfinanzministeriums wegen Steuerstraftaten Bußgelder von insgesamt 56,5 Mio. Euro festgesetzt, die Steuerfahndung hat dem Staat lediglich Mehrsteuern in Höhe von rund 2,2 Mrd. Euro eingebracht. [3] Angesichts des mutmaßlichen Umfangs der Steuerhinterziehung ist das lächerlich wenig (nicht einmal zwei Prozent). Aber es ist offenbar leichter, die Transferleistungen der Bürgergeldbezieher zu kürzen, bei denen übrigens im Gegensatz zu Millionären die Einkommens- und Vermögensverhältnisse akribisch geprüft werden.

Man darf gespannt sein, welche Maßnahmen die Ampelregierung zu ergreifen gedenkt. Natürlich ist es sinnvoll, den ökologischen Umbau der Wirtschaft und die Ansiedelung von Hochtechnologie weiterhin finanziell zu fördern. Wer da am falschen Ende spart, könnte den Abwärtstrend verstärken und auf lange Sicht den ökonomischen Niedergang einleiten. Die Suppe jedoch ausgerechnet von den Armen auslöffeln zu lassen, ist eine bodenlose Frechheit und dürfte die Spaltung der Gesellschaft noch stärker vertiefen. Selbstverständlich weiß auch ich, dass der Gerechtigkeitsgedanke bei Merz und Lindner zweitrangig ist, darüber habe ich mir von Anfang an keine Illusionen gemacht. Sie liefern eben bloß das, was man von ihnen erwartet.

Jetzt rächt sich, dass man vor der Einführung der Schuldenbremse die - wie sich jetzt zeigt - berechtigten Warnungen von Ökonomen in den Wind geschlagen hat. Die seinerzeit oft verwendete Metapher der solide wirtschaftenden "schwäbischen Hausfrau", die als scheinbar einleuchtende Begründung herhalten musste, war ein billiger Propagandatrick. Erstens ist ein Staatshaushalt nicht mit einem Privathaushalt gleichzusetzen, weil Sparen beim Staat durch den negativen Einfluss auf die Wertschöpfung auch dessen Einnahmen verringert, während Sparen beim Privathaushalt das Einkommen unangetastet lässt. Und zweitens wäre selbst im sparsamen Schwabenland ohne Hypothekenschulden wahrscheinlich kein einziges "Häusle" gebaut worden. Schwaben wissen nämlich, dass man zuerst investieren muss (häufig unter Inkaufnahme von Schulden), um anschließend Erträge zu erwirtschaften. So schafft man in einer Volkswirtschaft Werte.

Wie wenig Konservative und Marktradikale von der Wirtschaft verstehen, zeigt ja die verlotterte Infrastruktur Deutschlands. Falls sie sich jetzt abermals durchsetzen, ist Schlimmes zu befürchten.

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[1] tagesschau.de vom 24.11.2023
[2] Statista, Steuerhinterziehung kostet EU-Staaten Milliarden
[3] Bundesministerium der Finanzen, Monatsbericht Oktober 2022, PDF-Datei mit 275 KB