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10. Dezember 2023, von Michael Schöfer
Erst einmal tief Luft holen und gründlich nachdenken


Es ist wenig ratsam, aus einer emotional aufgeladenen Stimmung heraus Gesetze zu kreieren. Wenn beispielsweise aufgrund eines - gewiss tragischen - Einzelfalls der Jahrtausende alte Rechtsgrundsatz, dass man nicht zweimal in derselben Sache angeklagt werden darf, über Bord geworfen wird, darf man mit Fug und Recht Zweifel anmelden, ob das wirklich der Weisheit letzter Schluss ist. Der Gesetzgeber wischte solche Bedenken allerdings beiseite. 1981 wurde eine 17-Jährige vergewaltigt und erstochen, ein angeklagter Tatverdächtige aber 1983 rechtskräftig freigesprochen. 2012 ergab eine DNA-Untersuchung, die Anfang der achtziger Jahre noch nicht möglich war, dass er trotzdem der Täter sein könnte. Auf Drängen des Vaters der Getöteten hat der Gesetzgeber den eingangs genannten Rechtsgrundsatz aufgehoben und die Strafprozessordnung entsprechend geändert, seit 2021 konnte man einen zuvor Freigesprochenen erneut anklagen, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel vorliegen. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Änderung jedoch im Oktober 2023 für verfassungswidrig erklärt.

Die verständliche Empörung über Sexualstraftaten an Kindern hat 2021 u.a. auch zu einer drastischen Verschärfung der Strafvorschrift wegen dem Besitz von Kinderpornographie geführt, beim § 184b StGB (Verbreitung, Erwerb und Besitz kinderpornographischer Inhalte) wurde die Mindeststrafe auf ein Jahr erhöht und die Tat somit als Verbrechen eingestuft. Vorher hatte die Justiz die Möglichkeit, minderschwere Fälle einzustellen oder als Vergehen abzuurteilen, das war nun nicht mehr möglich. Diese Rechtsänderung ging indes an der Lebenswirklichkeit vorbei. Beispiel: An einer Schule machte das intime Video einer 13-Jährigen die Runde, "als eine Lehrerin davon erfährt, lässt sie sich das Video ebenfalls auf ihr Handy laden, um die Mutter des Mädchens zu informieren". [1] Obgleich sie die weitere Verbreitung verhindern wollte, also mit guter Absicht handelte, war laut Gesetz der Tatbestand eines Verbrechens erfüllt. Der Lehrerin drohten gravierende Konsequenzen: ein Jahr Freiheitsstrafe plus Entlassung aus dem Beamtenverhältnis sowie Verlust ihrer Pensionsansprüche. Die Justiz hat da, dem Gesetzgeber sei Dank, überhaupt keinen Ermessensspielraum mehr. Die gegen den Rat der meisten Experten durchgesetzte Änderung soll jetzt aber wieder zurückgenommen werden, weil sie - typisches Eingeständnis bei gesetzgeberischen Schnellschüssen - auch die Falschen getroffen hat.

Leider werden die Politiker aus Schaden nicht klug, sondern sind einmal mehr willens, aus der aktuellen Stimmungslage heraus Regeln zu verschärfen. "In Sachsen-Anhalt ist es ab sofort Voraussetzung für die Einbürgerung, sich zum Existenzrecht des Staats Israel zu bekennen. Das Innenministerium hat in einem entsprechenden Erlass festgelegt, dass den Bewerberinnen und Bewerbern andernfalls die Einbürgerung verweigert werden soll. Das Existenzrecht Israels sei 'deutsche Staatsräson', hieß es. Das soll nun auch bundesweit zur Regel werden, fordert Innenministerin Tamara Zieschang." [2] Das ist eine Reaktion auf Pro-Palästina-Demonstrationen, bei denen antisemitische Parolen gerufen wurden. Die Empörung darüber ist nach dem Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober 2023 verständlich, doch ist Empörung wirklich ein guter Ratgeber? Wer Deutscher werden will, sollte zweifellos das Grundgesetz und die Rechtsordnung befürworten. Aber muss jemand, der Deutscher werden will, auch noch ein Bekenntnis zu einem ganz bestimmten Drittstaat ablegen? Vollkommen überflüssig, denn das Existenzrecht jedes Staates ergibt sich schon allein durch die in Artikel 25 Grundgesetz festgeschriebene Gültigkeit der allgemeinen Regeln des Völkerrechtes. Es wird also im Grunde das Bekenntnis verlangt, dass ein Schimmel weiß ist.

In welchem Gesetz ist die "deutsche Staatsräson" verankert? In keinem einzigen! Sie steht weder im Grundgesetz noch in anderen Gesetzen und ist lediglich eine politische Absichtserklärung, die gegenüber Israel erstmals im Jahr 2008 von Angela Merkel geäußert wurde. Aber Absichtserklärungen, seien sie aus historischen Gründen auch noch so verständlich, haben dennoch keinerlei Rechtskraft. Obendrein ist nicht einmal klar, was die Staatsräson in diesem Fall konkret bedeutet. Staatsräson, mithin der Vorrang der Staatsinteressen vor allen anderen Interessen, möglicherweise sogar unter Inkaufnahme der Verletzung von Moral- und Rechtsvorschriften, könnte gerade dem Grundgesetz widersprechen, weil der Staat ohne Ausnahme an die Rechtsordnung gebunden ist. Eine Staatsräson im Sinne eines "übergesetzlichen Notstands" gibt es nicht. Der Staat hat sich, Absichtserklärungen der Politiker über die uneingeschränkte Solidarität mit Israel hin oder her, an die Verfassung und an die Gesetze zu halten, unter anderem ans Völkerrecht. Punkt. Von Einbürgerungswilligen ein Bekenntnis abzuverlangen, das von der unter Umständen rechtswidrigen Staatsräson abgeleitet wird, ist aufs Neue so eine mit heißer Nadel gestrickte Regel, mit denen man - siehe oben - schon öfter vor dem Bundesverfassungsgericht gescheitert ist.

Es wäre besser, die Politik würde erst einmal tief Luft holen und gründlich nachdenken, bevor sie übereilt handelt.

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[1] SWR.de vom 25.08.2023
[2] MDR.de vom 06.12.2023