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11. Dezember 2023, von Michael Schöfer
Sind wir das neue Westrom?


Nehmen wir einmal an, rein hypothetisch, versteht sich, Winston Churchill hätte 1941 gesagt, dass der Krieg nun schon viel zu lange dauert, zahlreiche Opfer gekostet und horrende Staatsausgaben verursacht hat. "Wir müssen das Töten beenden, bieten wir dem Nazi doch Frieden an. Meinetwegen kann er den Kontinent haben. Hauptsache, wir haben unsere Ruhe." Churchill wäre wohl kaum als der heroische Kriegspremier in die Geschichtsbücher eingegangen, der er in Wahrheit gewesen ist ("we shall never surrender"). Womöglich hätte auch US-Präsident Franklin D. Roosevelt gefragt: "Was geht uns dieser Krieg im fernen Europa an? Sollen die Europäer das Problem doch selbst lösen." Er hätte also nie das Leih- und Pachtgesetz in Kraft gesetzt, um entgegen der vorherrschenden isolationistischen Stimmung der Amerikaner die Briten im Überlebenskampf mit Waffen und Munition zu unterstützen.

Das Ergebnis liegt auf der Hand: Hitler hätte sich in seiner Meinung über die Schwäche der Demokratien bestätigt gefühlt und den auf dem Silbertablett servierten Sieg dankbar entgegengenommen. Die Weltgeschichte wäre ganz anders verlaufen. Moskau wäre heute vielleicht eine deutsche Provinzhauptstadt und in fast ganz Europa würde die Terrorherrschaft der "Herrenrasse" wüten: Konzentrationslager für Andersdenkende, Zwangsarbeit für "Untermenschen" und Vernichtungslager für "Fremdrassige". Selbst im tiefkatholischen Bayern würde man sich nicht mehr mit "Grüß Gott", sondern gehorsam mit "H… H….." begrüßen, Berlin wäre wahrscheinlich das Zentrum des großgermanischen Weltreichs. Welch schrecklicher Gedanke.

Das Wort "Zeitenwende", das Olaf Scholz in seiner Regierungserklärung am 27. Februar 2022 verwendete, ist für die aktuelle Situation durchaus zutreffend. Bedauerlicherweise haben die europäischen Demokratien daraus aber nie die richtigen Konsequenzen gezogen, die Unterstützung des ukrainischen Abwehrkampfes kam oft zu spät und war nie ausreichend. Erst ein Jahr nach Putins Invasion versprach die Europäische Union, der Ukraine eine Million Artilleriegeschosse zu liefern, konnte jedoch bislang nur einen Bruchteil bereitstellen (Stand November nicht einmal 10 % der angekündigten 155-Milimeter-Geschosse). [1] Hätten die Briten nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ein ganzes Jahr vertrödelt, bevor sie ihre Rüstungsproduktion ankurbelten, wäre London heute vielleicht ebenfalls nur noch eine deutsche Provinzhauptstadt. Inzwischen muss sogar die Regierung von Joe Biden befürchten, dass ihr der Kongress die Mittel für die weitere Unterstützung der Ukraine verweigert. Wie dumm, wie kurzsichtig!

Der Westen hätte eigentlich die industrielle Kapazität, genug Waffen und Munition zu produzieren, aber es mangelt mehr und mehr am politischen Willen, Russland langfristig Widerstand zu leisten. Sind wir uns den Konsequenzen eines russischen Sieges in der Ukraine nicht bewusst? Wer jetzt die hohen Kosten scheut, wird in naher Zukunft noch viel mehr investieren müssen, um sich gegen Putins Aggressivität zu wehren. Oder man kapituliert. Kürzlich hat der Kremlherrscher Lettland eine unmissverständlichen Drohung zukommen lassen, und das wird nur der Auftakt sein, weil angesichts der schwach erscheinenden Demokratien bestimmt auch andere Autokraten in Versuchung geraten, sich mit Gewalt ein Stück des Kuchens zu holen. Darauf, dass Putin davor zurückscheut, ein Nato-Land anzugreifen, sollte man sich nicht verlassen, viel zu oft wurde er nicht ernst genommen und hat die zurückhaltend reagierenden Demokratien überrascht. Dass er die Ukraine wirklich angreift, wollten bis zuletzt die wenigsten glauben. Putin blufft nur, hieß es. So kann man sich täuschen.

Täuschen wir uns nicht ein weiteres Mal in seinen Absichten, Russland darf die Ukraine keinesfalls besiegen. Ob allerdings die von innen heraus erodierenden Demokratien genug Widerstandskraft und Durchhaltewillen aufbringen, erscheint aus heutiger Sicht fraglich. Rechte Parteien gewinnen mehr und mehr Wahlen. Und wenn Donald Trump 2024 in den USA tatsächlich die Präsidentschaftswahl gewinnt, wird es zappenduster. Eine gängige Meinung über den Untergang des Römischen Reiches ist ja, dass es vor allem an seinen inneren Widersprüchen und weniger an den äußeren Bedrohungen gescheitert ist. Genau diese Gefahr sehe ich auch bei den westlichen Demokratien. Sind wir das neue Westrom?

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[1] Süddeutsche vom 24.11.2023, Printausgabe, Seite 7