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22. Dezember 2023, von Michael Schöfer
Die Bahn funktionierte trotzdem


Kürzlich habe ich mich gefragt, wer wohl in der guten alten Zeit die Deutsche Bundesbahn geleitet hat. Damals, als man im Jahr 1970 vergleichsweise noch für einen Spottpreis durch Deutschland fahren konnte, während man heute dafür ein kleines Vermögen anlegen muss. Aktuell kostet die Normalfahrkarte von München nach Hamburg knapp über 200 Euro. Wohlgemerkt: 2. Klasse. Ein Erwachsener. One-Way-Ticket.

Unfassbar: Die Deutsche Bundesbahn wurde ehedem für ihre Pünktlichkeit gelobt, und das viel größere Streckennetz hat tadellos funktioniert. Bahnreisende konnten bei großer Hitze sogar das Fenster öffnen (die billigste Klimaanlage ever), allerdings war das Hinauslehnen aus Gründen der Suizidprävention strengstens untersagt, was die meisten Fahrgäste schon allein aus Gründen der Selbsterhaltung auch beachtet haben. Kaum zu glauben: Die Bundesbahn machte früher mit dem Slogan "Alle reden vom Wetter. Wir nicht." Werbung, in Zeiten des Klimawandels führt bekanntlich schon der kleinste Wintereinbruch zu massiven Zugausfällen (verspätet sind die Züge ja über das ganze Jahr hinweg).

Zugegeben, sie war ein bisschen gemächlicher, dennoch kam man mit ihr in der Regel zuverlässig von A nach B. Nur die Zugtoilette, faktisch ein Plumpsklo zur Befeuchtung der Schienen, versprüht selbst im Rückblick keinerlei Charme. Wer auf der Bahnstrecke die Gleise betrat, war daher auch mit einem hygienischen Problem konfrontiert, nicht bloß mit dem von hinten nahenden D-Zug. Der Gebrauch der Zugtoilette ist aus nachvollziehbaren Gründen während des Halts in den Bahnhöfen verboten gewesen.

Ein Kuriosum war die Bahnsteigkarte, die einzig und allein zum Betreten der Bahnsteige berechtigte. Der Liebsten beim Einsteigen zum Abschied noch einen Kuss geben, kostete den Gentleman immerhin 20 Pfennig. Auch ein gewisser Wladimir Iljitsch Uljanow, strenggenommen das genaue Gegenteil eines Gentlemans, wusste das zu würdigen: "Wenn diese Deutschen einen Bahnhof stürmen wollen, kaufen die sich erst eine Bahnsteigkarte!" Er hatte es freilich 1917 der kaiserlichen Reichseisenbahn zu verdanken, dass er rechtzeitig zu seiner Revolution kam. Wo ist die Verspätung, wenn man sie mal wirklich braucht?

Wolfgang Vaerst wurde am 1. September 1968 mit der Leitung der Eisenbahnabteilung im Bundesverkehrsministerium betraut, als Ministerialdirektor bekam er weder ein Millionengehalt noch sechsstellige Boni für fehlende Pünktlichkeit und mangelnde Kundenzufriedenheit ausgezahlt. Er war Beamter, kein Manager. Jedenfalls offiziell. Die Bahn funktionierte erstaunlicherweise trotzdem. Für das mickrige Gehalt eines Ministerialdirektors würden heutige Bahnchefs wahrscheinlich noch nicht einmal ihren Wecker stellen. Wer weniger als eine Million verdient, über den rümpft man in Vorstandsetagen wohl eher die Nase (Bahnchef Richard Lutz soll im vergangenen Jahr 2,24 Mio. € bekommen haben, 15-mal so viel wie ein Ministerialdirektor in Besoldungsgruppe B 9).

Vaerst war Sozialdemokrat, und die SPD galt seinerzeit als links. In den siebziger Jahren durften Mitglieder der noch linkeren DKP bei der Bundesbahn dennoch nicht einmal Lokführer werden, denn man sagte ihnen nach, dass sie den Taktfahrplan sabotieren würden. So gesehen müssen heute besonders viele Kommunisten bei der Bahn arbeiten, aber aufgrund des Fachkräftemangels nimmt man inzwischen offenbar jeden. GDL-Chef Claus Weselsky ist dagegen Mitglied der CDU, hat aber zuweilen auf den Taktfahrplan mehr negative Wirkung als der strengste Winter oder der verbohrteste Kommunist. Sein Motto: "Alle Räder stehen still, wenn mein starker Arm es will!" Bahnkunden dürfen den Stillstand demnächst wieder - Achtung Wortwitz - in vollen Zügen genießen.