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24. Dezember 2023, von Michael Schöfer
Kein Asyl für Maria und Josef


Im Jahr 753 nach der Gründung Roms plante Klientelkönig Herodes in Judäa einen Genozid an allen Neugeborenen, weshalb sich viele Eltern mit ihren Kindern hastig auf die Flucht begaben. Eine Historikern namentlich bekannte Familie, Maria, Josef und ihr kleines Baby, verschlug es in der Ferne bis nach Europa, sie flehten mitten im Winter an der bajuwarischen Grenze um Asyl: "Bitte lasst uns rein, sonst wird unser Kind von Herodes getötet." Da sie aber nicht die einzigen Flüchtlinge aus Judäa waren, verfügte der bajuwarische König Markus I. einen sofortigen Aufnahmestopp, er nannte diese Neuschöpfung "Obergrenze". "Das Boot ist voll", ließ er den Halberfrorenen durch seine Grenzsoldaten ausrichten.

In jenen bitterkalten Tagen machte sich die junge Familie sodann hoffnungsvoll ins Sauerland auf. Der dortige Fürst verlangte von jedem seiner Untertanen, die Merzsche Leitkultur anzuerkennen, dazu zählte er u.a. das Schmücken eines Tannenbaums zur Wintersonnenwende. "Bei ihm sind wir bestimmt richtig", sagte Josef zu Maria, aber da hatte er sich gründlich geirrt. Fürst Merz ließ die Flüchtlingsfamilie kurzerhand nach Kigali abschieben, dort sei es wegen dem stets warmen Klima ohnehin viel angenehmer als im nasskalten Sauerland. Von Maria, Josef und ihrem Neugeborenen hat man seitdem nie wieder etwas gehört, vermutlich sind sie auf der Überfahrt nach Karthago im Mittelmeer ertrunken. Ein Schicksal, das damals viele judäische Flüchtlinge ereilte.

Wir schreiben mittlerweile das Jahr 2776 n. Gr. R., das Sauerland und Bajuwarien gehören jetzt zum Germanischen Reich. In Bajuwarien lässt Fürst Söder in allen öffentlichen Gebäuden einen Bierhumpen aufhängen, was die Nichttrinker unter seinen Untertanen stark erzürnt. "Der Bierhumpen ist ein Zeichen unserer kulturellen Prägung. Er gehört genauso zum bajuwarischen Fürstentum wie Göttervater Jupiter und sein Sohn Bacchus", schimpft Söder beim Frühschoppen im Bürgerbräukeller. "Gerade Bacchus ist uns wohlgesonnen, ihm zu Ehren trinken wir täglich gerne mindestens einen Humpen." Sein harsches Urteil: "Abstinenzler passen nicht zu Bajuwarien."

Die Merzsche Leitkultur ist im Dunkel der Jahrtausende verschollen, von alter Zeit her sind nur noch die Gladiatorenspiele erhalten geblieben, die alle vier Jahre in Lüdenscheid stattfinden. Unter der Flagge mit den fünf Ringen, die symbolisch an die Ketten der Sklaverei erinnern, müssen sich die Mitglieder der Demokraten-Sekte immer wieder aufs Neue mit den skythischen Kriegern von Zar Putin messen. Die Wettkämpfe werden traditionell von Friedrich Müller-Lüdenscheidt XIII. eröffnet, im Sommer 2777 ist es wieder so weit. Carsten Linnemann, Präsident der sauerländischen Kaufmannsgilde, wischt ethische Bedenken beiseite: "Gewiss, die Spiele sind unbestritten blutig, aber sie beleben die heimische Wirtschaft. Und darauf kommt es schließlich an." Die Händlervereinigung rechnet mit Einnahmen in Höhe von 30 Millionen Silberlingen.

Der argentinische Historiker Jorge Mario Bergoglio hat in diesem Jahr auf der Frankfurter Buchmesse sein neustes Werk gegen Kritik verteidigt. Bergoglio stellt darin die These auf, dass eine Abspaltung des Judentums in der Antike den Lauf der Welt beinahe entscheidend verändert hätte. Anhänger der sogenannten "Nazarener" verbreiteten damals angeblich in ganz Judäa visionäre Forderungen nach Mitmenschlichkeit, Gerechtigkeit und Feindesliebe. Die Geburt des Messias stehe kurz bevor, behaupteten sie. Schriftrollen aus Qumran am Toten Meer würden Bergoglios Aussagen eindeutig belegen. Doch zur Zeit des Herodes breche dieser Zweig des Judentums aus unerfindlichen Gründen plötzlich ab. Der Messias der Nazarener ist seines Wissens nie gekommen, bedauert der umstrittene Historiker, dem Kritiker Beleidigung der Götter vorwerfen. Wer weiß, meint Bergoglio, wenn sich diese Utopisten tatsächlich durchgesetzt hätten, würde man heute in Bajuwarien keine Bierhumpen, sondern womöglich etwas ganz anderes aufhängen. Was das sein könnte, überließ er allerdings der Phantasie seiner Zuhörer.