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01. Januar 2024, von Michael Schöfer
Wenn wir uns darüber wundern, ist es zu spät


Die Aussichten für 2024 sind, nun ja, ziemlich bescheiden: Der Krieg in der Ukraine wird genauso weitergehen wie der in Nahost, das Ausbreiten der Konflikte zu einem Flächenbrand liegt durchaus im Bereich des Möglichen. In Deutschland schaut man besorgt auf die drei Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg, bei denen die vom Verfassungsschutz in SN und TH als "gesichert rechtsextremistisch" eingestufte AfD laut Umfragen gute Aussichten auf einen fulminanten Wahlerfolg hat. Viele bewerten die AfD als brandgefährlich für die Demokratie. Nicht anders in den USA, wo sich der Putschist Donald Trump bei der Präsidentschaftswahl anschickt, erneut das Weiße Haus zu erobern. Das könnte nicht bloß die Vereinigten Staaten, sondern das gesamte Weltgefüge drastisch ändern. Leider nicht zum Guten. Trump kokettiert ja offen damit, politische Gegner zu verfolgen oder gar zu vernichten und eine Diktatur zu errichten (allerdings angeblich bloß am ersten Tag seiner Amtszeit). Man muss die Gefahren absolut ernst nehmen.

Nun gibt es in beiden Ländern Verfassungsartikel, die solche Gefahren für die Demokratie abwenden sollen. Stichwort: Wehrhafte Demokratie. In Deutschland sind das:

Artikel 21 Abs. 2 GG: "Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig."

sowie

Artikel 18 GG: "Wer die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere die Pressefreiheit (Artikel 5 Abs. 1), die Lehrfreiheit (Artikel 5 Abs. 3), die Versammlungsfreiheit (Artikel 8), die Vereinigungsfreiheit (Artikel 9), das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Artikel 10), das Eigentum (Artikel 14) oder das Asylrecht (Artikel 16a) zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht, verwirkt diese Grundrechte." [1]

In beiden Fällen entscheidet das Bundesverfassungsgericht. Die Anwendung von Artikel 21 GG könnte die AfD verbieten und von der Wahl ausschließen. Artikel 18 erlaubt das auch für einzelne Personen, etwa mit Blick auf den thüringischen AfD-Landesvorsitzenden Björn Höcke.

In den USA lautet Abschnitt 3 des 14. Zusatzartikels wie folgt:
"Niemand darf Senator oder Abgeordneter im Kongreß oder Wahlmann für die Wahl des Präsidenten oder Vizepräsidenten sein, irgendein ziviles oder militärisches Amt im Dienste der Vereinigten Staaten oder eines Einzelstaates bekleiden, der, nachdem er als Mitglied des Kongresses oder als Beamter der Vereinigten Staaten oder als Mitglied der gesetzgebenden Körperschaft eines der Einzelstaaten oder als Verwaltungs- oder Justizbeamter in einem der Einzelstaaten auf die Einhaltung der Verfassung der Vereinigten Staaten vereidigt worden ist, an einem Aufstand oder Aufruhr gegen sie teilgenommen oder ihre Feinde unterstützt oder begünstigt hat. Doch kann der Kongreß mit Zweidrittelmehrheit in jedem der beiden Häuser diese Amtsunfähigkeit aufheben." [2]

Letztlich wird darüber der Supreme Court befinden. Und bei dieser zweifellos historischen Entscheidung werden sich hoffentlich selbst stockkonservative Richter darüber Gedanken machen, was künftige Geschichtsbücher über sie berichten. Es dürfte ihnen nämlich wenig Ruhm einbringen, als willfährige Erfüllungsgehilfen des Totengräbers der amerikanischen Demokratie in die Annalen einzugehen. (Denken Sie etwa an den schlechten Ruf von Franz von Papen, der als "Hitlers Steigbügelhalter" in die Geschichte einging.)

Die Auffassungen zum Verbot teilen sich grob gesagt in zwei Hälften: Die einen sagen, man müsse die AfD oder Trump politisch an der Wahlurne bekämpfen, ein Wahlausschluss würde deren Wähler nur noch stärker radikalisieren. Die anderen sagen, man dürfe nicht warten, bis die AfD oder Trump an der Macht sind, denn dann könnte es zu spät sein. Je näher die Wahltermine rücken, desto mehr neige ich der zweiten Meinung zu. Darauf zu vertrauen, dass die Checks and Balances auch im Extremfall die Demokratie bewahren, erscheint mir zunehmend naiv. Erfahrungsgemäß finden Autokraten zahlreiche Opportunisten, die bereitwillig jede Schandtat mitmachen, sofern sie dadurch Vorteile genießen. Die Feinde der Demokratie dürfen deshalb erst gar nicht die Gelegenheit erhalten, das in der Praxis auszutesten. Zwar wurden die o.g. Verfassungsartikel bislang nur selten oder noch nie angewandt, dennoch stehen sie als Möglichkeit ausdrücklich in der Verfassung. Und das schließlich nicht ohne Grund, die Verfassungsväter haben sich dabei sicherlich etwas gedacht. Hätte man von vornherein vorgehabt, sie nie anzuwenden, hätte man sie auch gleich ganz weglassen können.

Wohlgemerkt, es geht bei dieser Frage nicht darum, welche Wirtschafts- oder Asylpolitik umgesetzt werden soll, es geht vielmehr um das Fundament unserer Demokratie. Es geht um die Entscheidung, ob künftig überhaupt noch die Presse- und Meinungsfreiheit existiert oder freie Wahlen stattfinden. Wenn wir uns erst darüber wundern, wie rasch unsere Grundrechte beschnitten werden, ist es tatsächlich zu spät.

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[1] Deutscher Bundestag, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland
[2] Botschaft der USA in Deutschland, Verfassung der USA, deutsche Übersetzung, PDF-Datei mit 200 kb