Home | Archiv | Leserbriefe | Impressum



11. Januar 2024, von Michael Schöfer
Wannseekonferenz light


Geschichte kann sich wiederholen. Und das nicht nur als Farce. Mich erinnerte das gestern bekanntgewordene Geheimtreffen von Rechtsextremisten in Potsdam sogleich an die Pläne der Nazis im Dritten Reich, die hatten nämlich zunächst erwogen, Millionen Juden nach Madagaskar zu deportieren. Nachdem sich der Madagaskarplan als unrealistisch entpuppte, landeten die Nazis kurze Zeit danach bei der auf der Wannseekonferenz beschlossenen Vernichtung des jüdischen Volkes, dem Holocaust. So ähnlich, siehe Potsdam, kann es erneut passieren.

"Was machen wir bloß mit denen, wenn wir einmal an der Macht sind", erörterten dort Rechtsextreme der Identitären Bewegung, AfD-Politiker, CDU-Mitglieder der WerteUnion von Hans-Georg Maaßen sowie Burschenschafter, Juristen, Politikerinnen, Unternehmer und Ärzte. Gewissermaßen eine "Wannseekonferenz light". Vom Tagungsort in einem Gästehaus am Lehnitzsee sind es bis zur berühmt-berüchtigten Villa am Wannsee gerade mal 8 km Luftlinie. Aber es ist nicht nur die räumliche, sondern insbesondere die thematische Nähe zum Nationalsozialismus, die den Wählerinnen und Wählern endlich die Augen öffnen muss.

In Potsdam ging es hauptsächlich um die "Remigration", die Zwangsdeportation von Millionen Menschen: "Asylbewerber, Ausländer mit Bleiberecht - und 'nicht assimilierte Staatsbürger'." [1] Mit "nicht assimilierten Staatsbürgern" sind wohl vor allem Deutsche mit Migrationshintergrund gemeint. Ob wir bald einen "Biodeutschen"-Nachweis (ehedem "Ariernachweis") brauchen? Bis in die dritte oder sogar bis in die vierte Generation? Klingt absurd, ist es aber leider nicht. Anstatt wie damals Madagaskar wird diesmal ein "Musterstaat" irgendwo in Nordafrika in Erwägung gezogen. Selbstverständlich ist das alles, wie bei den Rechten üblich, absolut hirnrissig, doch Fanatismus war noch nie rational.

Dass es laut Grundgesetz keine Deutschen erster und zweiter Klasse gibt, sondern alle Staatsbürger unabhängig von ihrer Herkunft die gleichen Rechte genießen, spielt offenbar keine Rolle. Dass Deportationen gegen Artikel 9 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN-Generalversammlung vom 10.12.1948 verstoßen ("Niemand darf willkürlich festgenommen, in Haft gehalten oder des Landes verwiesen werden") und obendrein strafbar sind, ficht die Rechtsextremen natürlich nicht an. Wir wissen ja aus Erfahrung, wie sie zu den Menschenrechten stehen, in ihren Augen ist das nur unnötige Humanitätsduselei.

Denkt an Martin Niemöller:

Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen,
ich war ja kein Kommunist.
Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen,
ich war ja kein Sozialdemokrat.
Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen,
ich war ja kein Gewerkschafter.
Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.

Glaube also keiner, dass er sicher ist, sollten Rechtsextreme hierzulande jemals wieder an die Macht kommen, selbst Deutsche ohne Migrationshintergrund ("Biodeutsche") werden sich wundern. Jeder politisch Andersdenkende muss mit Lagerhaft oder Schlimmeren rechnen, und er wird sich dann vergebens auf seine Grundrechte berufen. Anfangs sind es nur in Erwägung gezogene Deportationen, später vielleicht konkret Hinrichtungen. Deutsche Nazis waren bekanntlich schon von jeher extrem bösartig und, was das Töten angeht, besonders phantasievoll.

Maßlose Übertreibung? So schlimm wird es nicht kommen? Das abzuwarten wäre gefährlich. AfD-Europawahlprogramm 2024: "Auf nationaler und europäischer Ebene müssen Remigrationsprogramme auf- und ausgebaut werden." [2] Offiziell sind damit bei der AfD bislang nur "junge Menschen aus Entwicklungsländern Afrikas und des Nahen Ostens" gemeint. Aber wie die Tagung in Potsdam zeigt, muss es dabei ja nicht bleiben. Die Juden im Dritten Reich waren ebenfalls Deutsche, nur halt mit einer anderen Religion als die Bevölkerungsmehrheit. Die Nazis haben ihnen die Staatsbürgerrechte und den Schutz der Gesetze entzogen, sie konsequent aus der "Volksgemeinschaft" (Nazi-Jargon) ausgegrenzt. Heute formuliert die Rechte das laut Correctiv so: "Man müsse einen 'hohen Anpassungsdruck' auf die Menschen ausüben, zum Beispiel über 'maßgeschneiderte Gesetze'." Klingt verdächtig nach den "Nürnberger Gesetzen" aus dem Jahr 1935.

Angesichts der Umfrageergebnisse der AfD wähnt sich die Rechte anscheinend kurz vor der Machtübernahme. Ich kann dem CDU-Bundestagsabgeordneten Marco Wanderwitz nur beipflichten: Man muss die AfD endlich verbieten, sie ist eine Gefahr für die Demokratie. Wollen wir warten, bis es wirklich zu spät ist? Das wäre an Dummheit kaum zu überbieten.

Was das angeht war der Nazi-Demagoge Joseph Goebbels im Nachhinein bemerkenswert ehrlich, etwa in seiner höhnischen Rede zur Eröffnung des Reichssenders Saarbrücken: "Wir nehmen gerne Ratschläge an von Menschen, die etwas besser verstehen als wir. Aber ist das rechtens, dass der Klügere sich vom Dümmeren kritisieren lassen soll? Und dass die anderen dümmer sind als wir, dass wird dadurch bewiesen, dass sie sich von uns aus der Macht heraus haben setzen lassen. Denn wären sie schlauer gewesen als wir, hätten sie vermutlich Verstand genug gehabt, uns daran zu verhindern. [sic] Denn sie hatten ja die Macht. Sie hatten den Staatsapparat und die Bürokratie und die Polizei und die Beamten und die öffentliche Meinung und die Mehrheit und das Geld. Wir hatten gar nichts. Nur Köpfchen, Köpfchen. (…) Wenn unsere Gegner sagen 'Ja, wir haben euch doch früher die Freiheit der Meinung zugebilligt' - ja ihr uns, das ist doch kein Beweis, das wir das euch auch tun sollen. Eure Dummheit braucht doch auf uns nicht ansteckend zu wirken. Dass ihr das uns gegeben habt, das ist ja ein Beweis dafür, wie dumm ihr seid." [3]

Es heißt oft: Wehret den Anfängen! Ich fürchte allerdings, den Anfang haben wir längst verpasst, wir sind schon mittendrin. Noch ist Zeit, aber es ist kurz vor zwölf.

----------

[1] Correctiv vom 10.01.2024, Geheimplan gegen Deutschland
[2] AfD, Europawahlprogramm 2024, Seite 17, PDF-Datei mit 320 KB
[3] Saarländischer Rundfunk, SR Fundstücke: Rede von Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, Joseph Goebbels, zur Eröffnung des Reichssenders Saarbrücken in der "Wartburg" am 4. Dezember 1935, ab Min. 13:32