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03. Februar 2024, von Michael Schöfer
So dilettantisch arbeiten nicht einmal Klempner


Im Tagesspiegel war kürzlich zu lesen: "CDU-Chef Friedrich Merz blieb länger schon ohne schwere Patzer." Er werde deshalb in der CDU "inzwischen als natürlicher Kanzlerkandidat gesehen". [1] Dass die Ampelregierung einen schlechten Job macht und obendrein noch viel schlechter kommuniziert - geschenkt. Aber der Job des Oppositionsführers war ebenfalls schon einmal besser besetzt. Wie wir nachfolgend sehen werden, war das Lob für den CDU-Vorsitzenden unangebracht, denn Merz' Patzer liegen genau besehen gar nicht so lange zurück. Wenn einer mal ein paar Wochen unfallfrei fährt, macht ihn das schließlich auch nicht gleich zum Fahrer-As.

Wir erinnern uns: "Auch die Bevölkerung, die werden doch wahnsinnig, die Leute. Wenn die sehen, dass 300.000 Asylbewerber abgelehnt sind, nicht ausreisen, die vollen Leistungen bekommen, die volle Heilfürsorge bekommen. Die sitzen beim Arzt und lassen sich die Zähne neu machen, und die deutschen Bürger nebendran kriegen keine Termine", polterte er im September 2023. [2] Trotz harscher Kritik hielt er unbeirrt an seiner Aussage fest: Es gebe "überhaupt keinen Grund", sich dafür zu entschuldigen. [3]

Wenn die Selbstsicherheit wenigstens durch Expertise gedeckt wäre. Ist sie aber nicht, weil die Zahnärzte von der Überfüllung ihrer Praxen mit Asylbewerbern überhaupt nichts wussten: "'Ich kann die Aussagen von Friedrich Merz ehrlich gesagt nicht nachvollziehen', sagte der Präsident der Bundeszahnärztekammer, Christoph Benz. 'Die Zahnärzte werden nicht überrannt. Ich habe noch von keinem Kollegen gehört, dass in der Praxis gerade viele Termine blockiert sind, weil so viele Geflüchtete behandelt werden müssen. Niemand muss auf einen Termin warten, wenn die Behandlung dringlich ist, kein Deutscher und kein Flüchtling.'" [4] Zudem widerspricht seine im Brustton der Überzeugung vorgetragene Behauptung der aktuellen Rechtslage, Asylbewerber bekommen nämlich in den ersten 18 Monaten ihres Aufenthalts lediglich eine Notfallversorgung (bei akuter Erkrankung und Schmerzzuständen), erst danach erhalten sie die normalen Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen, die Zahnersatzkosten freilich bloß anteilig übernehmen. Müsste man als Oppositionsführer und gefühlter Kanzler in spe eigentlich wissen.

Der nächste Fauxpas ließ nicht lange auf sich warten. Weil das Bürgergeld 2024 um 12 Prozent angehoben wurde, sprachen Unternehmer von drohenden Kündigungen, Arbeitsminister Heil nannte solche Gedankengänge "bescheuert". Merz widersprach vehement: "Nein, die sind nicht bescheuert. Die können rechnen." [5] Erneut war seine Aussage nicht von Fakten gedeckt: "Arbeit lohnt sich in Deutschland nach wie vor. Mit dieser Einschätzung widerspricht das ifo-Institut der verbreiteten Einschätzung, dass sich Arbeit in Deutschland wegen des Bürgergeldes nicht mehr lohne. 'Die von manchen Politikern aufgestellte Behauptung, wer nur Sozialleistungen beziehe, bekomme netto mehr als ein Geringverdiener, ist schlicht falsch', sagte der Leiter des ifo-Zentrums für Makroökonomik und Befragungen, Andreas Peichl." [6] Die Kündigungswelle ist jedenfalls bislang ausgeblieben, wahrscheinlich weil die Bürgerinnen und Bürger - offenbar im Gegensatz zu Merz - richtig rechnen können. Erfahrungsgemäß darf man nicht jedem Popanz auf den Leim gehen, den die Unternehmer aufbauen. Müsste man als Oppositionsführer und gefühlter Kanzler in spe eigentlich wissen.

Nun folgt der nächste völlig absurde Vorwurf des CDU-Vorsitzenden: Die Ampelregierung manipuliere die Wahl, weil sie sich beim Zuschnitt einer gesetzlich notwendigen Wahlkreisverschiebung von Sachsen-Anhalt nach Bayern an Parteiinteressen orientiere. "Mit der Wahlrechtsänderung solle unter anderem erreicht werden, dass der bayerische Wahlkreis Augsburg-Stadt 'nicht zu viele CSU-Wähler hat' und Claudia Roth 'bei der nächsten Bundestagswahl in Augsburg-Stadt ihren Wahlkreis behalten kann'", beklagte Merz lauthals. [7] "Mit dieser Änderung des Bundeswahlgesetzes in dieser Woche wird wieder einmal das Wahlrecht manipuliert und wieder einmal der Demokratie unseres Landes schwerer Schaden zugefügt." [8] Ausdrücklich verglich er das Vorgehen der Ampelregierung mit dem sogenannten "Gerrymandering" in den USA. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt, der für gewöhnlich nicht als großer Denker auf sich aufmerksam macht, "nannte es den 'Gipfel der Dreistigkeit, wenn man so offensichtlich wie die Ampel das hier tut versucht, zugunsten von einzelnen Abgeordneten einen Wahlkreis-Zuschnitt neu zu schaffen'. Es gehe letztlich gegen jegliche fachliche Betrachtung nur um den 'Machterhalt der Ampel'. 'Das ist zutiefst verwerflich.'"

Fakt ist allerdings: Claudia Roth kandidierte zwar 2021 im Bundestagswahlkreis Augsburg-Stadt - doch den holte Volker Ullrich von der CSU. Und was man nicht hat, kann man man logischerweise auch nicht "behalten". Claudia Roth zog über die Landesliste in den Bundestag ein. Fachliche Beratung hat eher Alexander Dobrindt nötig, denn über den Machterhalt der Ampel entscheidet hierzulande ausschließlich die Zweitstimme, die Wahlkreisstimme (Erststimme) ist für die Zusammensetzung des Bundestages vollkommen irrelevant. Ein kurzer Blick ins Bundeswahlgesetz hätte vollauf genügt. Insofern hinkt auch der Vergleich mit den USA gewaltig, denn beim in der Tat höchst fragwürdigen "Gerrymandering" geht es um den Zuschnitt der Wahlkreise für die Wahl des Repräsentantenhauses. Dort gilt bekanntlich das Mehrheitswahlrecht, der jeweilige Gewinner des Wahlkreises erhält den Sitz. Weder bei der Wahl des Senats (Wahlkreis ist der gesamte Bundesstaat) noch bei der Präsidentschaftswahl (ausschlaggebend ist die Mehrheit im Electoral College) spielt Gerrymandering eine Rolle. Der Unterschied: Das Repräsentantenhaus setzt sich allein nach dem Mehrheitswahlrecht zusammen, der Deutsche Bundestag hingegen allein nach dem Verhältniswahlrecht. Für die Mehrheitsbildung in Letzterem ist es deshalb völlig gleichgültig, wer in bestimmten Wahlkreisen gewinnt. Wie war das mit den Äpfeln und den Birnen? Müsste man als Oppositionsführer und gefühlter Kanzler in spe eigentlich wissen. Und als Landesgruppenchef ebenso. Wobei Merz mit solchen "Argumenten" zumindest bei Donald Trump punkten könnte, denn der will ja der Welt noch immer weismachen, 2020 gegen Joe Biden gewonnen zu haben. Kleiner Trost: Wenigstens ist der CDU-Vorsitzende nicht der Einzige, der mit dem Wahlrecht (dem hiesigen und dem amerikanischen) auf Kriegsfuß steht.

Was sollen diese dämlichen Diskussionsbeiträge auf AfD-Niveau, die sich leicht durch Fakten widerlegen lassen? Glaubt der Sauerländer das von ihm Gesagte tatsächlich? Falls ja: Oje, da kommt noch was auf uns zu! Die Opposition in Deutschland wurde, Tagesspiegel-Lob hin oder her, wahrlich schon einmal sachkundiger und seriöser geführt. Selbstverständlich muss ein Oppositionsführer angreifen, das gehört zu seiner Jobbeschreibung, aber so dilettantisch wie Friedrich Merz arbeiten nicht einmal Klempner.

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[1] Tagesspiegel vom 22.01.2024
[2] tagesschau.de vom 28.09.2023
[3] RND vom 03.10.2023
[4] Tagesspiegel vom 28.09.2023
[5] Focus-Online vom 18.11.2023
[6] tagesschau.de vom 17.01.2024
[7] t-online vom 01.02.2024
[8] merkur.de vom 29.01.2024