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04. Februar 2024, von Michael Schöfer
Der wandelnde Widerspruch


Ach, der Mensch ist so unentschlossen, er will ständig sowohl als auch, am liebsten alles zugleich. Erneuerbare Energien sind hochwillkommen, aber bitte nicht vor meiner Haustür. Und in der Nähe weder Stromtrassen noch Gaspipelines. Landauf, landab wollen Bürgerinitiativen Windräder verhindern, beklagen sich dann aber lautstark über horrende Stromrechnungen. Kleiner Hinweis: Solar- und Windenergie sind vergleichsweise billig. Doch die Ablehnungsfront steht, so haben etwa die Einwohner von Mehring im Landkreis Altötting gerade den dort geplanten Windpark in einem Bürgerentscheid mit deutlicher Mehrheit abgelehnt. [1] Dass deshalb vor Ort Tausende von Arbeitsplätzen in der energieintensiven Chemieindustrie auf dem Spiel stehen? Was soll's, irgendwoher wird der Strom schon kommen, notfalls aus der Steckdose. Gegen solche Kurzsichtigkeit hilft keine Brille. Vielleicht haben demnächst viele Mehringer mehr Zeit zum Nachdenken als ihnen lieb ist, wenn nämlich die Chemieindustrie wegen den hohen Energiepreisen tatsächlich abwandert.

Mannheims Oberbürgermeister Christian Specht beklagt sich über die Bundesregierung und die Deutsche Bahn. Grund: Die geplante Neubaustrecke Frankfurt-Mannheim steht wegen Sparmaßnahmen auf der Kippe. "Wir fordern Bahn und Bundesregierung nachdrücklich auf, dieses dringend benötigte und seit langem geplante Neubauprojekt (...) mit Hochdruck voranzutreiben und zeitnah umzusetzen", protestiert das Oberhaupt der zweitgrößten Stadt in Baden-Württemberg. [2] Jetzt wird’s ein bisschen kompliziert: Specht ist in der CDU, die wiederum jüngst in Karlsruhe erfolgreich gegen die Aufweichung der Schuldenbremse geklagt hat. Das war absolut okay, der Verfassungsverstoß lag allein auf Seiten der Ampelregierung. Nach dem Urteil wird dennoch allmählich klar, dass nun vorne und hinten Geld für notwendige Investitionen fehlt - u.a. eben bei der Deutschen Bahn. Spechts Parteichef Friedrich Merz verweigert aber bislang jede Änderung des Grundgesetzes, um die - nicht zuletzt nach Meinung vieler Ökonomen - allzu engen Grenzen der Schuldenbremse wenigstens etwas großzügiger zu ziehen. Aufgrund dieser Sturheit kann halt schon mal eine neue Bahntrasse über die Wupper gehen. Aber warum beklagt sich Specht eigentlich bei der Bahn und der Bundesregierung, die können sich schließlich, der CDU sei Dank, das Geld nicht aus den Rippen schneiden? Darüber wacht das Bundesverfassungsgericht. Vielleicht wird bald auch Mannheims Oberbürgermeister merken, dass beides zugleich, die strikte Einhaltung der rigiden Schuldenbremse und weiterhin kostenintensive Investitionen vorantreiben, unmöglich ist.

Aber nur vielleicht, denn der Mensch ist generell voller Widersprüche. Nehmen wir beispielsweise die Klimakrise. Furchtbar, nicht wahr? Stimmt, doch zugleich ist die weltweite Nachfrage nach Kreuzfahrten (für Klimaschützer die überflüssigste Todsünde schlechthin) höher als je zuvor. Über SUVs regt sich die halbe Nation auf - und die andere Hälfte fährt einen. Noch vor kurzem jammerten die Boomer über den schier unerträglichen Stress am Arbeitsplatz, waren nach eigener Einschätzung stets nah am Burnout. Leben um zu arbeiten oder arbeiten um zu leben, das ist hier die Frage. Richtig, doch heute jammern sie über die Generation Z, die nicht mehr bereit sei, sich der Firma zuliebe zu Tode zu schuften. Die Generation Z wäre faul, behaupten die Boomer. Ja, was denn nun? Zwischen Karoshi, so nennt man in Japan den Tod durch Überarbeitung, und einer gesunden Work-Life-Balance sind naturgemäß kaum Kompromisse möglich.

Den gleichen Zielkonflikt erleben wir in der Politik: Die, die sich gemeinhin über mangelnde Freiheit beschweren ("Wir sind das Volk!"), wählen immer öfter die AfD. Ich sach mal so: Die würden sich bestimmt umgucken, wenn Höcke & Co. tatsächlich an die Macht kämen. Wer glaubt, dass mit der AfD das Freiheitsparadies in greifbare Nähe rückt, wird definitiv im Zentrum der Hölle aufwachen. Apropos AfD: Ist es nicht ein Treppenwitz, dass sich ausgerechnet Tino Chrupalla in einem Interview mit dem Deutschlandfunk über die "Enthemmung der Sprache" beklagt? Ausgerechnet der Co-Vorsitzende der AfD, die wie keine andere Partei in Deutschland zur Verrohung der Sprache beigetragen hat? Chrupalla neigt für gewöhnlich nicht zu feinsinniger Ironie, er meint das offenbar ernst.

Wir träumen vom einfachen Leben auf einer einsamen Südseeinsel, können uns dort aber trotz der gebotenen Bescheidenheit nur eine Hütte mit Klimaanlage und Internet-Anschluss vorstellen. Nicht zu vergessen das Funknetz fürs Handy. Wir machen uns angeblich überhaupt nichts aus Geld, doch gerade bei dem hört bekanntlich jede Freundschaft auf. Reiche verachten gerne den "schnöden Mammon", wollen aber partout nichts davon abgeben, andernfalls wären ja ihre raffinierten Steuersparmodelle überflüssig. Wir verteidigen die Meinungsfreiheit, aber wehe es widerspricht uns jemand. Und am schlimmsten ist, wenn er dann auch noch recht hat (nun, wir wollen es mit der Toleranz nicht gleich übertreiben). Diese Aufzählung ließe sich nahezu endlos fortsetzen, würde Sie aber gewiss rasch langweilen. Außerdem erkennen wir uns darin früher oder später alle selbst. Und Selbsterkenntnis ist ja oft schmerzhaft. Ich überlasse daher alles Weitere Ihrer Phantasie. Zu welcher Erkenntnis Sie dabei auch gelangen mögen, eines scheint zumindest festzustehen, dass der Homo sapiens schon von jeher ein wandelnder Widerspruch ist. Und dass sich daran auf absehbare Zeit nichts ändert. Egal, wie stark wir uns bemühen, diese unangenehme Einsicht schönzureden.

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[1] BR.de vom 29.01.2024
[2] SWR.de vom 03.02.2024