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12. Februar 2024, von Michael Schöfer
Alphatiere


Die Crux bei Alphatieren ist, dass sie häufig keine anderen Qualitäten aufzuweisen haben. Alphatier sein genügt vollkommen. Das gleicht, zumindest in den Augen des Wahlvolks, ihre gravierenden Defizite aus. Folge ist, dass die Amerikaner im November vermutlich die Wahl zwischen einem senilen Greis und einem notorisch lügenden Möchtegern-Diktator haben. Zugegeben, das ist mit Blick auf Joe Biden etwas über- und mit Blick auf Donald Trump stark untertrieben, aber im Wesentlichen beschreibt es recht genau die verzwickte Lage. Leider keine guten Aussichten. Oder nehmen wir das bayerische Alphatier Markus Söder, der heute mit gespielter Empathie einen Baum umarmt und ihn morgen gnadenlos mit der Kettensäge zu Kleinholz macht. Je nachdem, was ihm gerade politisch opportun erscheint. Alphatiere sind die Unberechenbarkeit in Person, berechenbar sind sie nur in ihrem Bestreben, sich rücksichtslos an die Spitze zu kämpfen und dabei jede Konkurrenz wegzubeißen.

Ein Alphatier der SPD war der ehemalige Vorsitzende Sigmar Gabriel, der das Alphatierdasein in Hannover von der Pike auf gelernt hat. Sein Lehrmeister war Alphatier Gerhard Schröder, der wiederum mit dem russischen Super-Alphatier Wladimir Putin befreundet ist respektive war (so genau weiß man das nicht). Wie dem auch sei, jedenfalls war Gabriel früher einmal Vizekanzler und Bundesaußenminister. Politiker werden nach ihrem Karriereende gerne interviewt, was ihnen die hochwillkommene Gelegenheit gibt, den noch aktiven Politikern Belehrungen zu erteilen. Sie tragen keinerlei Verantwortung mehr, das wirkt befreiend und erleichtert ihnen erheblich, die Erinnerung an ihre eigenen Fehler geschickt zu verdrängen. Anscheinend schwindet das Erinnerungsvermögen im Ruhestand rapide. Ein Phänomen, das sie mit den Alphatieren der Opposition gemein haben.

Sigmar Gabriel gab dem Deutschlandfunk solch ein aufschlussreiches Interview. Es ging um Donald Trumps Freibrief für Putin, "zahlungsunwillige" europäische Nato-Mitglieder nach Gutdünken behandeln zu dürfen. "Trump hatte am Samstag bei einer Wahlkampfveranstaltung im US-Bundesstaat South Carolina erklärt, der 'Präsident eines großen Landes' habe ihm einmal eine Frage gestellt: ob die USA dieses Land auch dann noch vor Russland beschützen würden, wenn es die Verteidigungsausgaben nicht zahle. Trump sagte, seine Antwort sei gewesen: 'Nein, ich würde euch nicht beschützen.' Vielmehr noch: Er würde Russland 'sogar dazu ermutigen, zu tun, was auch immer zur Hölle sie wollen'." [1] Spätestens jetzt sollten wir Europäer wissen, was von ihm zu erwarten ist. Sigmar Gabriel war natürlich empört und hat Trumps Aussage heftig kritisiert, allerdings offenbarte er dabei auch eklatante Gedächtnislücken.

Trump habe früher schon einmal solche Sprüche gemacht, etwa gegenüber Südkorea oder der Nato. "So ganz neu ist das nicht. Das Problem ist darin: da ist ja auch was Wahres dran. Es ist ja nicht so richtig zu erklären, warum zwei Volkswirtschaften, die europäische und die amerikanische, die beide gleich groß sind, beide in etwa gleich stark sind, warum die Amerikaner mehr für Sicherheit in Europa beitragen als wir selber. Das ist sozusagen das Argument, das auf seiner Seite ist." Gefragt, ob Deutschland die Zeit nach der Rede von Angela Merkel aus dem Jahr 2017 genutzt habe ("Die Zeiten, in denen wir uns auf andere ein Stück weit verlassen können, sind vorbei"), antwortete Gabriel: "Nein, haben wir nicht. (...) Auch unter Joe Biden war die Idee, sich stärker den Aufgaben im Indopazifik insbesondere gegenüber China zu widmen und den Europäern zu sagen, ihr müsst ausgleichen, was wir nicht mehr tun können. Ihr könnt nicht weiterhin eure Sicherheit auf amerikanische Flugzeugträger projizieren, weil die wegfahren aus dem Atlantik. Und das haben wir alles dann nicht gemacht. (...) Wir müssen selber was machen, viel mehr machen, insbesondere in dem europäischen Pfeiler der Nato. Wenn wir uns zurückerinnern an den Kalten Krieg, der während der Teilung Deutschlands stattgefunden hat, dann haben wir damals alleine in Westdeutschland 500.000 Soldaten an der innerdeutschen Grenze gehabt. (...) Das Gleiche müssten jetzt eigentlich ein paar hundert Kilometer weiter östlich wieder machen, an der Ostflanke der Nato." Die Gesellschaft müsse ihre Haltung ändern, so dass es nicht gleich zum politischen Risiko wird, wenn jemand sagt, zwei Prozent am Bruttoinlandsprodukt für die Verteidigung ist vielleicht noch nicht genug. "Unter Willy Brandt, dem Friedenskanzler, haben wir drei Prozent ausgegeben." [2] Nur der Vollständigkeit halber: 2017 saß Gabriel in Kabinettssitzungen neben Angela Merkel.

Was er wohlweislich nicht gesagt hat: Derjenige, der dafür gesorgt hat, die Merkelsche Erkenntnis ungenutzt vorbeiziehen zu lassen, war Gabriel selbst. 2017 wurde nämlich das Zwei-Prozent-Ziel der Nato gerade in Deutschland in Zweifel gezogen: "Ich halte es für völlig unrealistisch zu glauben, dass Deutschland einen Militärhaushalt von über 70 Milliarden Euro pro Jahr erreicht. Ich kenne keinen Politiker in Deutschland, der glaubt, dass das in unserem Land erreichbar oder auch nur wünschenswert wäre. Die Beschlüsse der Nato kennen kein apodiktisches Zwei-Prozent-Ziel. Ich weiß gar nicht, wo wir die ganzen Flugzeugträger hinstellen sollten, die wir kaufen müssten, um 70 Milliarden Euro pro Jahr in die Bundeswehr zu investieren." [3] Wenn Gabriel heute das mangelnde Engagement der Jahre vor dem Ukraine-Krieg kritisiert, müsste er sich an die eigene Nase fassen. "Die schärfsten Kritiker der Elche waren früher selber welche." (Fritz Weigle alias F. W. Bernstein)

Wobei die Analyse damals vielleicht gar nicht so falsch war. Die Nato gibt selbst unter Berücksichtigung der unsicheren Daten zu Russland und China wesentlich mehr fürs Militär aus als ihre potenziellen Hauptgegner. Wir haben derzeit 3.358.000 aktive Soldaten, Russland bloß 830.900. Es gibt kaum eine Waffenkategorie, in der es Russland mit dem Bündnis aufnehmen kann. [4] Sogar wenn die Europäer die Vereinigten Staaten als Verbündeten abschreiben müssen, bleibt ihr Übergewicht bei den Militärausgaben bestehen.

Militärausgaben nach Ländern 2022
zu laufenden Preisen und Wechselkursen (jeweils auf- bzw. abgerundet)
USA
876,9 Mrd. US-$
Kanada 26,9 Mrd. US-$

Albanien
0,3 Mrd. US-$
Belgien
6,9 Mrd. US-$
Bulgarien
1,3 Mrd. US-$
Dänemark
5,5 Mrd. US-$
Deutschland
55,8 Mrd. US-$
Estland
0,8 Mrd. US-$
Frankreich
53,6 Mrd. US-$
Griechenland
8,1 Mrd. US-$
Großbritannien
68,5 Mrd. US-$
Island
0,0 Mrd. US-$
Italien
33,5 Mrd. US-$
Kroatien
1,3 Mrd. US-$
Lettland
0,8 Mrd. US-$
Litauen
1,7 Mrd. US-$
Luxemburg
0,6 Mrd. US-$
Montenegro
0,1 Mrd. US-$
Niederlande
15,6 Mrd. US-$
Nordmazedonien
0,2 Mrd. US-$
Norwegen
8,4 Mrd. US-$
Polen
16,6 Mrd. US-$
Portugal
3,5 Mrd. US-$
Rumänien
5,2 Mrd. US-$
Slowakei
2,0 Mrd. US-$
Slowenien
0,7 Mrd. US-$
Spanien
20,3 Mrd. US-$
Tschechien
4,0 Mrd. US-$
Türkei
10,6 Mrd. US-$
Ungarn
2,6 Mrd. US-$

Finnland* 4,8 Mrd. US-$
Schweden* 7,7 Mrd. US-$

China** 292,0 Mrd. US-$
Russland** 86,4 Mrd. US-$

Nato inkl. Finnland u. Schweden 1.244,8 Mrd. US-$
Europäische Nato-Staaten inkl. Finnland u. Schweden 341,0 Mrd. US-$

Hinweis: Die SIPRI-Daten zu den Militärausgaben beruhen ausschließlich auf offenen Quellen
*Beitritt von Finnland 2023, Beitritt von Schweden voraussichtlich 2024
**China = SIPRI-Schätzungen, Russland = sehr unsichere Daten [5]


Offenbar können wir nicht effizient mit Geld umgehen. Europa verzettelt sich, wir haben zum Beispiel viel mehr Hauptwaffensysteme als die Amerikaner, was u.a. an der gegenseitigen Konkurrenz der nationalen Rüstungsindustrien liegt, deren Interessen von den jeweiligen Regierungen eifersüchtig gewahrt werden. Die erheblich hinter den lautstarken Ankündigungen zurückbleibenden Lieferungen von Artilleriemunition an die Ukraine ist auch auf die französischen Forderung zurückzuführen, dass die Granaten in der EU produziert werden müssten. Doch die Europäer haben es versäumt, rechtzeitig auf Kriegsproduktion umzustellen. Hätten wir schneller reagiert, wäre die militärische Lage jetzt nicht so ernst. Wohlgemerkt, demnächst beginnt in der Ukraine das dritte Kriegsjahr.

Was wir dringend bräuchten, ist eine europäische Armee. Materiell, finanziell und juristisch. Doch die EU kann sich ja noch nicht einmal auf die Abschaffung der Sommerzeit einigen, weshalb man an so komplizierte Dinge wie eine gemeinsame Streitmacht gar nicht denken darf. Nehmen wir etwa Finnland und Schweden, die zusammengenommen nicht einmal an die Militärausgaben der Niederlande heranreichen, aber dennoch vergleichsweise widerstandsfähige Streitkräfte unterhalten. Es liegt nicht immer bloß am fehlenden Geld, sondern vielleicht auch an der Effizienz des Gesamtsystems, wie man Landesverteidigung organisiert.

Alphatier Sigmar Gabriel hat in seinem Interview in vielem durchaus Recht, nur wäre es halt ehrlicher gewesen, seine eigenen Versäumnisse offen zuzugeben. Gewiss, im Nachhinein ist man immer schlauer, doch hat man gelegentlich den Eindruck, dass die westlichen Politiker nach wie vor nicht bereit sind, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Und dann genügt es auch nicht, riesige Summen in eine weiterhin unzureichend organisierte Landes- bzw. Bündnisverteidigung zu investieren.

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[1] Süddeutsche vom 11.02.2024
[2] Deutschlandfunk vom 12.02.2024
[3] Spiegel-Online vom 31.03.2017
[4] Statista, Vergleich der Militärstärke von NATO und Russland im Jahr 2023
[5] SIPRI Military Expenditure Database, Ecxel-Datei mit 708 KB