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19. Februar 2024, von Michael Schöfer
Die simulierte Demokratie


Sie lernen es nicht! Sie machen immer wieder den gleichen Fehler und hoffen, das geneigte Wahlvolk möge trotz allem mitspielen: "Von der Leyen bewirbt sich um zweite Amtszeit", titelt die Tagesschau auf ihrer Website. [1] Doch bei wem bewirbt sie sich? Beim Wähler jedenfalls nicht, denn die EU-Kommissionspräsidentin wird bei der Europawahl vom 6. bis 9. Juni 2024 auf keinem einzigen Wahlvorschlag auftauchen. Kurios: Sie schimpft sich ab sofort "Spitzenkandidatin", obgleich sie ja gar nicht kandidiert. Nirgendwo. Wie 2019, als sie ebenfalls auf keinem Wahlvorschlag stand, aber dennoch zur großen Überraschung aller plötzlich aus dem Hut gezaubert wurde. Emmanuel Macron und Angela Merkel sollen das im Hinterzimmer ausgekungelt haben. Die aussichtsreichsten Spitzenkandidaten waren seinerzeit Manfred Weber von der konservativen EVP und der Sozialdemokrat Frans Timmermans. Das Wahlvolk hat die Farce allerdings ohne groß zu murren geschluckt, lediglich in den Kommentarspalten der Gazetten zog man ein bisschen die Augenbrauen hoch.

Das muss man sich wirklich auf der Zunge zergehen lassen: Die EU wird dann möglicherweise zehn Jahre lang von einer Präsidentin regiert, die dazu nie das Plazet des Wählers bekam. Wäre der Vergleich nicht deplatziert und damit unstatthaft, müsste man fragen: Was haben von der Leyen und Wladimir Putin gemeinsam? Antwort: Angst vor dem Wähler! Unglaublich: Von der Leyen hat 2003 das erste und erstaunlicherweise auch das letzte Mal einen Wahlkreis direkt gewonnen, das ist sage und schreibe 21 Jahre her, damals siegte sie bei der niedersächsischen Landtagswahl im Landtagswahlkreis Lehrte. Bei den Bundestagswahlen 2009, 2013 und 2017 unterlag sie im Bundestagswahlkreis Stadt Hannover II jeweils den Gegenkandidatinnen der SPD (Edelgard Bulmahn, Yasmin Fahimi). Gleichwohl hat sie eine steile Karriere hingelegt: Landesfamilienministerin (2003 bis 2005) unter Ministerpräsident Christian Wulff; Bundesfamilienministerin (2005 bis 2009), Bundesarbeitsministerin (2009 bis 2013) und Bundesverteidigungsministerin (2013 bis 2019) unter Bundeskanzlerin Angela Merkel. 2019 folgte dann wie oben erwähnt ihre unerwartete Inthronisation als EU-Kommissionspräsidentin.

Das Europäische Parlament hat nach wie vor kein Initiativrecht, darf also keine eigenen Gesetzesvorschläge beschließen. Diese Kompetenz liegt allein bei der vom Wähler nicht einmal indirekt gewählten EU-Kommission, an deren Spitze derzeit die ebenfalls von keinem einzigen Wähler auserkorene von der Leyen präsidiert. Und daran wird sich vermutlich in absehbarer Zeit nicht allzu viel ändern. Hierzulande besaß sogar der Reichstag des Deutschen Kaiserreichs (1871-1918) mehr Rechte als das EU-Parlament. Artikel 23 der Reichsverfassung vom 16. April 1871: "Der Reichstag hat das Recht, innerhalb der Kompetenz des Reichs Gesetze vorzuschlagen…" (Kleiner Hinweis: Wir wollen die Monarchie trotzdem nicht zurück.)

Das EU-Parlament kann die EU-Kommission bloß insgesamt als Gremium ablehnen, aber nicht selbst vorschlagen. Und damit das Ganze nicht allzu sehr auffällt, darf von der Leyen nun eben ein bisschen "Spitzenkandidatin" spielen (was sie de facto nie war und nie sein wird). Das ist meiner Ansicht nach bloß die Simulation von Demokratie, mit den vielbeschworenen westlichen Werten hat das Ganze wenig zu tun. Die EU ist und bleibt daher im Wesentlichen ein Projekt der Eliten. Und dann wundern sich alle, dass die Menschen davon nicht mehr allzu viel wissen wollen, die Euphorie von einst (Vereinigte Staaten von Europa) längst verflogen ist. Wir werden sehen, wie viele Wählerinnen und Wähler sich an dieser Farce beteiligen. Kann sein, dass viele noch vom letzten Mal enttäuscht sind, als man dem Wahlvolk vorgaukelte, es könne mit der Stimmabgabe über die Besetzung der EU-Kommission mitentscheiden.

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[1] tagesschau.de vom 19.02.2024