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| Impressum 01. März 2024, von Michael Schöfer Deutschland tut sich keinen Gefallen Es ist paradox: Einen Völkermord (Genozid) zu leugnen ist strafbar (§ 130 StGB), aber wenn man anderen einen Völkermord unterstellt, wird ebenfalls mit juristischen Konsequenzen gedroht. Das hat jedenfalls Bundesjustizminister Marco Buschmann mit Blick auf die Berlinale-Gala getan, ohne jedoch den Vorwurf näher zu spezifizieren. [1] Was ist passiert? "Der palästinensische Regisseur von 'No Other Land', Basel Adra, nahm in seiner Dankesrede Bezug auf den aktuellen bewaffneten Konflikt im Gazastreifen: 'Es ist für mich sehr schwer zu feiern, wenn Zehntausende meines Volkes in Gaza gerade durch Israel abgeschlachtet werden.' (...) Sein Co-Regisseur, der israelische Journalist Yuval Abraham, sprach von 'Apartheid' im Westjordanland." Regisseur Ben Russell sagte in seiner Dankesrede: "'Natürlich stehen wir hier auch auf für das Leben. Waffenstillstand jetzt! Natürlich sind wir gegen den Genozid. Wir stehen in Solidarität mit all unseren Kameraden.' (...) Russell trug während der Preisverleihung ein sogenanntes Palästinensertuch." [2] Landauf, landab herrscht jetzt große Aufregung. Wann beginnt ein Kriegsverbrechen, wann wird die Schwelle zum Genozid überschritten? Diese Fragen sind mit Blick auf den Gazakrieg beim Internationalen Gerichtshof anhängig, außerdem geht es dort um die Rechtmäßigkeit der seit 1967 andauernden Besatzung im Westjordanland. Es bleibt abzuwarten, wie die Verfahren ausgehen. Ob der Tatbestand wirklich erfüllt ist, ist bisweilen selbst unter Juristen umstritten. (Ohnehin gilt nach wie vor das Bonmot: "Drei Juristen, vier Meinungen.") Die Sache liegt nicht immer so klar auf der Hand, wie es bei den russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine der Fall zu sein scheint. Gerade Nichtjuristen fällt es schwer, auf solche Fragen eine rechtlich stichhaltige Antwort zu geben. Und Betroffene sehen das aufgrund ihrer emotionalen Sichtweise naturgemäß weniger nüchtern als Unbeteiligte. Ich bin inzwischen unsicher, ob das Vorgehen Israels wirklich noch rechtmäßig ist. Wenn ich einmal eine kleine Vergleichsrechnung aufmachen darf: Im Gazastreifen leben 2,1 Mio. Menschen, bislang gibt es dort ca. 30.000 Tote, das sind 1,43 Prozent der Bevölkerung. Deutschland hat 84 Mio. Einwohner, 1,43 Prozent davon sind 1,2 Mio. Menschen = die Einwohnerzahl der Städte Stuttgart, Mannheim und Karlsruhe zusammen. Nur, um einmal die Dimensionen bewusst zu machen, was dort passiert. "Der Gazastreifen wird unbewohnbar. Inzwischen sind bis zu 61 Prozent aller Gebäude im Gazastreifen beschädigt oder zerstört." [3] Wohin sollen die hungernden Menschen flüchten, wenn Israel jetzt auch noch in Rafah kämpfen will? Angesichts dessen wachsen meine Zweifel an der Verhältnismäßigkeit des israelischen Vorgehens. Vor allem: Es gibt keine Perspektive für eine politische Lösung des Konflikts, beide Seiten verharren in ihren jeweiligen Maximalpositionen: Die rechtsgerichtete israelische Regierung vertritt faktisch eine Eretz-Israel-Politik (jüdische Vorherrschaft zwischen Jordan und Mittelmeer), die Hamas dagegen will Israel vernichten und träumt von einem Palästina ohne Juden. Wie das konkret aussehen würde, falls sie dazu wirklich imstande wäre, haben wir am 7. Oktober 2023 gesehen. Es wäre ein unbeschreibliches Massaker. Angesichts dessen fällt es extrem schwer, an eine einvernehmliche Lösung (z.B. zwei Staaten für zwei Volksgruppen) zu glauben. Gleichwohl darf man die Hoffnung nie aufgeben. Die Richtschnur dabei muss aber das Völkerrecht sein, nicht das Recht des Stärkeren. Der Vorwurf des Genozids ist ohne Zweifel schwerwiegend, doch Deutschland tut sich keinen Gefallen, die Diskussion darüber mit der Androhung von strafrechtlichen Konsequenzen zu unterbinden und mit dem Totschlagargument "Antisemitismus" zu diskreditieren. Auch dafür, dass die Besatzungspolitik im Westjordanland Merkmale der Apartheid aufweist, gibt es durchaus Anhaltspunkte. [4] Diese Auffassung vertreten sogar Israelis, denen man ja wohl kaum Antisemitismus unterstellen kann. Passiert in Deutschland leider trotzdem (siehe oben, Yuval Abraham ist nämlich Jude). Die Besatzung im Westjordanland widerspricht der Charta der Vereinten Nationen, die Annexionen Ostjerusalems und der Golanhöhen sind ebenso völkerrechtswidrig wie die israelischen Siedlungen in Judäa und Samaria. Der Mängel der UN bin ich mir bewusst, nichtsdestotrotz ist die UN-Charta verbindliches Völkerrecht. Man muss in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass Israel die Charta schließlich am 11. Mai 1949 ebenfalls unterzeichnet hat. Und wer sich zur UN-Charta bekennt, muss deren Verpflichtungen auch einhalten. Keine Person und kein Land steht über dem Gesetz. Es gibt nichts anderes, die Alternative wäre das Chaos der Rechtlosigkeit. In Bezug auf Israel/Palästina ist die Stimmung in Deutschland furchtbar aufgeheizt, dabei wäre ein abgeklärter Diskurs dringend notwendig. Weniger Geschrei, mehr Argumente. Doch die Kritikfähigkeit ist bei vielen Beteiligten unterentwickelt. Das gilt wohlgemerkt für beide Seiten. Mitverantwortlich dafür ist die deutsche Geschichte mit dem monströsen Verbrechen der Schoa. Dennoch dürfen wir nicht bedingungslos (ohne Vorbehalte, ohne jede Einschränkung) hinter Israel stehen, weil es ums Völkerrecht und die Menschenrechte geht. Durch den Terrorangriff der Hamas ist Israel verständlicherweise traumatisiert, doch das ist keine Rechtfertigung für ein völkerrechtswidriges Vorgehen in Gaza, denn auch in diesem Krieg muss die Zivilbevölkerung möglichst geschont werden, müssen die militärischen Maßnahmen verhältnismäßig sein. Wie schwer das für Israel ist, habe ich ja hier vor kurzem dargelegt. [5] Aber die schlimmen Bilder und die stark gewachsene Anzahl der Opfer lösen unweigerlich Diskussionen aus. Auch in Deutschland. Und Schweigen wäre falsch. ----------
[1]
RP-Online vom 27.02.2024
[2]
rbb24 vom 26.02.2024
[3]
Zeit-Online vom 06.02.2024
[4]
vgl. etwa Human Rights Watch vom 26.07.2017, Die
Realität der Apartheid
[5] siehe Israels Dilemma vom 02.11.2023
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