Home | Archiv | Leserbriefe | Impressum



03. April 2024, von Michael Schöfer
Wie kann man bloß so tief sinken?


Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages definieren Antisemitismus u.a. wie folgt: "Antisemitisches Denken dokumentiert sich aktuell und weltweit auch in bestimmten Formen der Kritik am Staat Israel bzw. an der Politik der israelischen Regierungen gegenüber den Palästinensern, z.B. durch das Messen mit zweierlei Maß, indem man von Israel ein Verhalten einfordert, das von keinem anderen Staat verlangt wird." [1] Insofern ist es im Umkehrschluss definitionsgemäß kein Antisemitismus, wenn man von Israel die Einhaltung des Völkerrechts verlangt, genauso wie man das von allen anderen Staaten erwartet.

Man darf nicht so werden wie die anderen, man darf sich nicht mit Terroristen auf die gleiche Stufe stellen. Nicht einmal, wenn man sie zu Recht bekämpft. Das gebietet nicht nur das Recht, sondern vor allem die Moral. Nicht so werden wie die anderen, sonst ist man auch nicht besser als sie! Doch die Bilder, die wir derzeit aus Gaza sehen, sind absolut unerträglich. Es drängen sich einem förmlich Assoziationen an historische Ereignisse auf. Israel verspielt dadurch die letzten Sympathien, die es auf dem Globus noch besitzt, denn selbst Wohlmeinende sind entsetzt.

Man kann doch nicht die Zivilbevölkerung verhungern lassen, das Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 bietet dafür ohne jeden Zweifel keine Rechtfertigung. Artikel 54 des Zusatzprotokolls zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte (Protokoll I) sagt vielmehr unmissverständlich: "Das Aushungern von Zivilpersonen als Mittel der Kriegführung ist verboten."

Israel ist verpflichtet, die Zivilbevölkerung im Gazastreifen mit Nahrung zu versorgen: "Die Besetzungsmacht hat die Pflicht, die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungs- und Arzneimitteln mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln sicherzustellen; insbesondere hat sie Lebensmittel, medizinische Ausrüstungen und alle anderen notwendigen Artikel einzuführen, falls die Hilfsquellen des besetzten Gebietes nicht ausreichen." (Artikel 55 des Genfer Abkommens über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten vom 12. August 1949)

In Gaza herrscht akute Hungersnot. Die prekäre Lage der Zivilbevölkerung ist der Regierung Benjamin Netanjahus bekannt, und da hinreichende Gegenmaßnahmen unterbleiben, kann man Israel vorsätzliches Handel unterstellen. In meinen Augen ist das ein Kriegsverbrechen, vielleicht sogar Völkermord. Doch das mögen Juristen entscheiden. In diesem Zusammenhang erinnere ich mich jedenfalls an einen Buchtitel von Ralph Giordano: "Israel, um Himmels willen, Israel!" Will heißen: Israel, warum tust du das? Wie kann man bloß so tief sinken?

----------

[1] Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Antisemitismus-Definitionen und ihre Bedeutung für die Bekämpfung von antisemitischem Denken und die Verfolgung antisemitischer Straftaten, PDF-Datei mit 125 KB