Home | Archiv | Leserbriefe | Impressum



07. April 2024, von Michael Schöfer
Das Einknicken der Politik ist kein gutes Zeichen


Wer unmittelbar von Naturprodukten lebt, etwa die Landwirte oder die Berufsfischer, sollte sich nicht sehenden Auges den Ast absägen, auf dem er sitzt. Unter dem Eindruck der Bauern-Proteste hat die EU-Kommission gerade die vierprozentige Pflichtbrache ausgesetzt, die der Erhaltung der Artenvielfalt dienen sollte. Wenig verwunderlich, denn Trecker, die die Straßen blockieren, sind im Jahr der Europawahl nicht gern gesehen. Aber die eigentliche Frage ist doch, ob die Aussetzung der Pflichtbrache von wahltaktischen Gesichtspunkten abgesehen auch sinnvoll ist. Es besteht schließlich kein Zweifel mehr, dass die Artenvielfalt stark abnimmt und wir momentan ein Artensterben ungeheuren Ausmaßes erleben. Das sechste Massenaussterben in der Geschichte des Lebens auf der Erde, sagen die Experten. Das kann doch die Bauern nicht kalt lassen, denn sie leben von der Natur. Von einer möglichst intakten Natur, wohlgemerkt. Das Artensterben wird zweifelsohne auch die Landwirtschaft tangieren, in der Natur ist ja bekanntlich alles mit allem vernetzt.

Das gleiche Dilemma erleben wir beim Aushandeln der Fischerei-Fangquoten. 2020 wurden nach Angaben der FAO (Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen) so viele Fische und Algen aus dem Meer geholt wie nie zuvor, dabei gelten weltweit mittlerweile 35,4 Prozent der Fischbestände als überfischt und 57,3 Prozent als maximal genutzt (Stand 2019). [1] Steigende Entnahme trifft auf sinkende Bestände - man braucht kein Mathematikstudium, um zu prognostizieren, dass dies unweigerlich zum Kollaps führt. Die Proteste der Berufsfischer über Fangbeschränkungen verstehe ich sehr gut, immerhin leben sie vom Ertrag der Meere. Doch ich frage mich, was die Berufsfischer tun, sollten die Meere einmal tatsächlich leergefischt sein. Wenn sie nichts gegen den Zusammenbruch der Fischbestände unternehmen und vorübergehend geringere Einnahmen akzeptieren, werden sie künftig über gar keine Einnahmen mehr verfügen. Das mag man zwar beklagen, spiegelt aber bloß die bittere Realität wider.

Der Mensch denkt und handelt oft kurzfristig. Was interessiert uns etwa der durch den menschengemachten Klimawandel ausgelöste Meeresspiegelanstieg, der in einhundert oder zweihundert Jahren die Küstenstädte überfluten wird? Offenbar nicht allzu viel, denn bis dahin sind wir alle tot. Hier gilt buchstäblich: "Nach uns die Sintflut." Zur Erinnerung: Der CO2-Anteil in der Erdatmosphäre steigt weiterhin ungebremst an. Bei den Auswirkungen auf die Landwirtschaft und die Fischerei wird es kaum so lange dauern, wie mit dem Abschmelzen der Eisschilde auf Grönland und der Antarktis. Umso unverständlicher ist der Bauern-Furor. Denken Bauern und Fischer wirklich so engstirnig und egoistisch? Derzeit hinterlassen sie genau diesen Eindruck.

Die Versuche der Politik, die Lebensgrundlage der Menschheit zu bewahren, sind gemessen am Notwendigen ohnehin noch viel zu zaghaft. So gesehen ist das Einknicken der Politik kein gutes Zeichen, insbesondere weil sich die ökologische Katastrophe dadurch natürlich nicht aufhalten lässt. Die Bauern können zwar mit ihren Treckern Autobahnen blockieren, aber das bewahrt Insekten- und Vogelarten wohl kaum vor dem Aussterben. Den fatalen Auswirkungen können wir uns nicht entziehen, früher oder später werden wir alle davon eingeholt.

----------

[1] FAO, THE STATE OF WORLD FISHERIES AND AQUACULTURE 2022, Executive summary