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09. April 2024, von Michael Schöfer
Vertrauen wir doch auf die Weisheit des Gerichts


Nicaragua hat vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) Klage gegen Deutschland eingereicht. Vorwurf: Beihilfe zum Völkermord in Gaza. Ob dort tatsächlich ein Völkermord stattfindet, wird von vielen Völkerrechtlern bezweifelt. So wie etwa von Stefan Talmon, Professor für Öffentliches Recht, Völkerrecht und Europarecht an der Universität Bonn. Auf die Frage, ob Israel einen Genozid begeht, antwortet er: "Nein. Die Frage lässt sich insofern einfach beantworten, als Völkermord rechtlich eine Vernichtungsabsicht voraussetzt. Da gelten hohe Anforderungen. Der Internationale Gerichtshof hat das früher einmal so definiert, dass es keine andere Erklärungsmöglichkeit für ein Tun geben dürfe. Diese Vernichtungsabsicht sehe ich bei Israel aktuell nicht." Allerdings sagt er auch: "Dass Israel Kriegsverbrechen begeht, steht aus meiner Sicht außer Zweifel." Gleichzeitig betont er das Selbstverteidigungsrecht des Landes und die daraus resultierenden Kriegshandlungen. Das Vorgehen gegen Kombattanten (die Kämpfer der Hamas) stehe im Einklang mit dem Völkerrecht. [1] Man muss also akkurat differenzieren. Und da sich der Krieg in Nahost dynamisch entwickelt, gelten solche Stellungnahmen natürlich nur für den aktuellen Wissensstand.

Doch das Urteil sprechen die dafür zuständigen Richter des IGH, so wie das in einer regelbasierten internationalen Ordnung Standard ist. Und vor Gericht sind Überraschungen keineswegs ausgeschlossen. Wie der IGH die unzureichende Versorgung der Zivilbevölkerung mit Nahrung und die grassierende Hungersnot bewertet, bleibt abzuwarten. Hunger dürfe nicht als Kriegswaffe eingesetzt werden, bekräftigte Bundesaußenministerin Annalena Baerbock. Nur war das eben im Jahr 2022, gemeint waren Russland und Wladimir Putin. [2] Worte, die ihr so mit Blick auf Israel und Benjamin Netanjahu bislang nicht über die Lippen kamen. Hier begnügt sie sich mit der eher allgemein gehaltenen Forderung: "Das Sterben, das Hungern, es muss ein Ende haben." [3] Doppelstandards? Rechtfertigt die vermeintliche Staatsräson alles? Ist Deutschland, historisch bedingt, auf dem israelischen Auge blind?

Was mich darüber hinaus stört, ist der leicht durchschaubare Versuch, den Kläger und das Gericht schon im Vorfeld zu delegitimieren. Matthias Herdegen vom Institut für Völkerrecht der Universität Bonn hält den Erfolg der Klage von Nicaragua für "vollkommen ausgeschlossen". "Wenn es doch dazu käme, wäre das ein schwerer Schlag für die Glaubwürdigkeit des Internationalen Gerichtshofs." [4] Anders ausgedrückt: Wenn das Gericht nicht so entscheidet, wie Herdegen das Völkerrecht auslegt, liegt die Blamage ganz auf Seiten des Gerichts. Äußern Sie das mal bei einer Verfassungsklage in Karlsruhe: "Wenn das Bundesverfassungsgericht nicht so entscheidet, wie ich die Verfassung interpretiere…" Da werden Sie bei den Richtern bestimmt wahre Begeisterungsstürme entfachen. Ist schon ein bisschen dreist, so hoch auf dem Ross zu sitzen. Letztlich dürfte auch Herdegen klar sein, dass am Ende allein die Gerichte die Entscheidungen fällen.

"Ausgerechnet Nicaragua. Ausgerechnet Daniel Ortega", schallt es uns aus dem Blätterwald entgegen. Ja, Nicaragua ist zweifelsohne eine Diktatur, in der es massive Menschenrechtsverletzungen gibt. Und Daniel Ortega ist ein Diktator, der heute nicht besser regiert als seinerzeit Anastasio Somoza, den er 1979 stürzte. Wirklich schlimm. Abgesehen von den direkt Betroffenen vor allem für Linke, die einst Nicaragua vom Joch der Unterdrückung befreit sehen wollten. Doch die Revolution frisst bekanntlich ihre eigenen Kinder. Insofern ist es in der Tat eine fast unerträgliche Heuchelei, wenn sich Nicaragua vor dem IGH als Verfechter der Menschenrechte aufspielt. Dennoch entspricht selbst das den juristischen Standards. Nehmen wir an, Sie zeigen auf einem Polizeirevier einen Diebstahl an und der aufnehmende Beamte sagt: "Nun, wir müssen zuerst prüfen, ob Sie nicht selbst irgendwann etwas gestohlen haben." Da würden Sie wohl zu Recht fragen: "Was hat das eine mit dem anderen zu tun?" Natürlich nichts. Rechtsstaatlichkeit ist, wenn jeder ohne Ansehen der eigenen Person eine Klage vorbringen kann, es geht nämlich bloß um den vorgebrachten Sachverhalt und in keinster Weise um die Reputation des Klägers. Justitia ist blind, die Richter bewerten einzig und allein die Fakten aufgrund von stichhaltigen Beweisen.

Vertrauen wir doch auf die Weisheit des Gerichts.

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[1] Süddeutsche vom 08.04.2024, Printausgabe Seite 2
[2] tagesschau.de vom 24.06.2022
[3] Auswärtiges Amt, Rede von Außenministerin Annalena Baerbock bei der Aktuellen Stunde zur Lage in Israel und den Palästinensischen Gebieten im Bundestag
[4] Tagesschau vom 08.04.2024, 20:00 Uhr, ab 06:08 Min.