Home | Archiv | Leserbriefe | Impressum



12. April 2024, von Michael Schöfer
Volker Wissing will die Dinosaurier künstlich beatmen


Jetzt ernten wir die Folgen einer jahrzehntelangen Fehlentwicklung im motorisierten Individualverkehr: schneller, schwerer, größer. Auch die Dinosaurier wollten nicht einsehen, dass Riesenwachstum keine Zukunft mehr hat. Als sich dann die Verhältnisse durch den Einschlag eines Asteroiden abrupt änderten, sind sie binnen kurzem von der Bildfläche verschwunden. Unser Asteroid ist der menschengemachte Klimawandel, und die Dinos sind beispielsweise die beim Käufer äußerst beliebten SUVs: 2023 mit 30,1 Prozent das stärkste Segment bei den Neuzulassungen. [1] Folge: Der PKW-Bestand steigt genauso wie die durchschnittlichen CO2-Emissionen je Fahrzeug. Nach dem Einschlag in Yucatan setzten sich bekanntlich die wesentlich kleineren Säugetiere durch, wer am Ende den Klimawandel überlebt, ist aber noch offen. Meine Prognose: Schwere, spritfressende SUVs sind definitiv nicht darunter. Übrigens ebenso wenig die sündhaft teuren Elektro-Panzer mit einem Gewicht von mehr als zwei Tonnen.

Da der Personenverkehr rund 63 Prozent des gesamten Primärenergieverbrauchs im Verkehrssektor ausmacht, ist demzufolge hier am meisten Einsparpotenzial vorhanden. [2] Die Treibhausgas-Emissionen sind zwar in Deutschland 2023 insgesamt gesunken, doch der Verkehrssektor "verfehlt seine Klimaziele erneut deutlich und liegt 13 Millionen Tonnen über dem zulässigen Sektor-Budget". [3] 2023 wurden dort rund 146 Millionen Tonnen ausgestoßen, 2024 sind nach dem aktuellen Klimaschutzgesetz aber nur 128 Millionen Tonnen zulässig.

Durch ein generelles Tempolimit von 120 km/h auf den Autobahnen könnte man laut einer Studie des Umweltbundesamtes allein durch die Verringerung der Durchschnittsgeschwindigkeit jährlich 4,5 Millionen Tonnen einsparen. [4] Bleibt trotzdem noch eine gewaltige Differenz zu den von Bundesverkehrsminister Volker Wissing angeführten 22 Millionen Tonnen, die er laut Klimaschutzgesetz im Verkehrssektor per Sofortprogramm einsparen muss. Interessant ist, dass er das wesentlich mildere Mittel, ein generelles Tempolimit auf Autobahnen, seit langem hartnäckig ablehnt, nun aber die Nation stattdessen mit der Einführung von Wochenend-Fahrverboten erschreckt.

Sein Ziel ist natürlich weder das eine noch das andere, er will bloß endlich die Aufweichung des Klimaschutzgesetzes in trockene Tücher bringen, damit sich die 2019 von Schwarz-Rot eingeführte sektorale Berechnung erübrigt. Er will zur sektorübergreifenden Gesamtrechnung wechseln, bei der der Anstieg eines Sektors mit Rückgängen anderer Sektoren kompensiert werden kann, womit der Druck auf sein eigenes Ressort deutlich sinken würde. Dabei waren die verbindlichen Vorgaben für die einzelnen Sektoren das eigentliche Ziel des (durch die Novellierung von 2021 noch einmal verschärften) Klimaschutzgesetzes, die damalige Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) freute sich: "Kein Mitglied der Bundesregierung kann sich dann wegducken." [5] Nun, bis eben Volker Wissing Bundesverkehrsminister wurde, der genau das anstrebt: sich wegzuducken.

Was die Politik und die autofahrenden Bürger leider immer noch nicht einsehen wollen: Die Zeit der Dinosaurier ist vorbei. Vor allem dem Druck der Autoindustrie ist es zu verdanken, dass wir viel zu lange mit wirksamen Maßnahmen gewartet haben, dabei wäre rechtzeitiges Umsteuern für alle Beteiligten wesentlich sanfter gewesen. Jetzt wächst der Handlungsdruck aufgrund den rasant steigenden Durchschnittstemperaturen und den nicht mehr zu ignorierenden Folgen umso mehr. Was sich nicht zuletzt auch ökonomisch bemerkbar macht. Die Deutschen sind gerade dabei, den Umstieg auf die Elektromobilität zu vergeigen, weil die bislang von ihnen produzierten Elektroautos viel zu groß und viel zu teuer sind. Von der nach wie vor unzureichenden Ladeinfrastruktur ganz zu schweigen.

Jetzt beklagen sich die hiesigen Autobauer über die preisgünstigen und kleinen Elektroautos aus China. Die deutsche Dinosauriertaktik: Den Wandel verhindern und sich bequem auf dem Erreichten ausruhen. Die chinesische Säugetiertaktik: Warten, bis die Dinos durch ihren Erfolg und der daraus resultierenden Ignoranz geschwächt sind. Survival of the Fittest à la Charles Darwin: Nicht der Stärkste gewinnt, sondern der am besten an die sich ändernden Verhältnisse Angepasste. Die biologische Evolution ist da unerbittlich, und in der technischen Evolution ist es offenbar nicht anders. Doch Volker Wissing will lieber die Dinos künstlich beatmen, damit möglichst lang alles so bleibt wie es ist, was dennoch auf Dauer kaum helfen wird.

Die FDP hofft, sich mit der ideologiegetriebenen Politik (pro Verbrenner, pro Kernkraft etc.) über die 5-Prozent-Sperrklausel zu hieven, was vielleicht 2025 sogar gelingen mag. Angesichts permanenter Temperaturrekorde dürfte ihnen die Freude darüber aber langfristig wenig nützen. Historiker werden dereinst das Verschwinden der Liberalen von der politischen Bühne zwar verwundert zur Kenntnis nehmen ("haben die nicht gesehen, was auf die Menschheit zukommt?"), letztlich jedoch als logische Konsequenz der klimabedingten Umwälzungen bewerten.

Kein Zweifel, der Karren steckt jetzt ziemlich tief im Dreck, und zu diesem Ergebnis haben viele unterschiedliche Bundesregierungen gemeinsam mit der Autoindustrie beigetragen. Doch Lamentieren hilft nicht, der Emissions-Überhang muss irgendwie abgebaut oder das Klimaschutzgesetz tatsächlich aufgeweicht werden. Volker Wissing plant freilich den zweiten oder dritten Schritt vor dem ersten. Chuzpe hat er ja: Natürlich würde er den Schwarzen Peter liebend gerne den Grünen zuschieben, was allerdings ziemlich dreist ist, weil er die Autofahrer bisher gegen jegliche Vernunft besonders geschont hat. Wer - wie die Autofahrerpartei FDP - einerseits das Klimageld (die Pro-Kopf-Rückvergütung des CO2-Preises) blockiert, andererseits weder ein Tempolimit einführen noch die Pendlerpauschale reformieren will, sollte sein Versagen nicht mit durchsichtigen Forderungen nach Wochenend-Fahrverboten krönen. Wer den dritten vor dem ersten Schritt geht, könnte nämlich auf die Nase fallen.

----------

[1] KBA, Pressemitteilung Nr. 01/202 vom 04.01.2024
[2] Umweltbundesamt, Energieverbrauch und Kraftstoffe
[3] Umweltbundesamt, Pressemitteilung vom 15.03.2024
[4] Umweltbundesamt, Tempolimit
[5] Euractiv vom 12.03.2019