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01. Mai 2024, von Michael Schöfer
Wer das Gute will, kann dennoch das Falsche tun


Deutschland muss aufpassen, dass es nicht in einen neuen McCarthyismus abgleitet, denn wer das Gute will, kann dennoch das Falsche tun. Der Weg zur Hölle ist bekanntlich mit guten Vorsätzen gepflastert. (George Bernard Shaw) Nehmen wir etwa die nach dem 7. Oktober (Terroranschlag der Hamas in Israel) erfolgten Absagen im Kulturbereich, weil die Verantwortlichen befürchteten, dort könnten missliebige Äußerungen fallen oder Proteste ein dankbares Forum finden. Äußerungen, die manche - je nach eigenem Standpunkt - als antisemitisch oder islamfeindlich interpretieren. Dabei müsste man gerade jetzt mehr offen miteinander reden. Das setzt natürlich bei allen Beteiligten die Bereitschaft voraus, andere Meinungen auch tatsächlich zu tolerieren und sich mit ihnen argumentativ auseinanderzusetzen. In diesem Zusammenhang müssen wir gezwungenermaßen akzeptieren, dass man andernorts den Nahost-Konflikt aus einer anderen, aber eben nicht von vornherein unzulässigen Perspektive betrachtet. Das heißt nicht, solche Sichtweisen zu übernehmen, sondern zumindest darüber zu diskutieren und nicht mit faktischen Sprechverboten zu reagieren.

Völlig abstrus wird das Ganze, wenn Staatsanwaltschaften bei der Parole "From the River to the Sea" wegen des Anfangsverdachts der Volksverhetzung ermitteln, die inhaltlich kaum abweichende Formel "Between the Sea and the Jordan" allerdings auch im Gründungsprogramm der regierenden Likud-Partei zu finden ist. Letztere bleibt aber offenbar juristisch unbeanstandet. In dem einen Fall soll implizit das Existenzrecht Israels bestritten werden, in dem anderen Fall das Existenzrecht eines palästinensischen Staates. Wird hierzulande gegen diejenigen, die im Einklang mit Ministern der israelischen Regierung die völkerrechtswidrige Vertreibung der Palästinenser aus dem Westjordanland und/oder dem Gazastreifen fordern, ebenfalls wegen Volksverhetzung ermittelt? Israels Außenminister Katz soll kürzlich vorgeschlagen haben, die Palästinenser im Gazastreifen auf einer künstlich errichteten Insel im Mittelmeer anzusiedeln. [1] Auch Polizeiminister Itamar Ben-Gvir und Finanzminister Bezalel Smotrich schwadronieren über die "Migration" der Bewohner des Gazastreifens. [2] Einseitigkeit ist charakteristisch für den McCarthyismus.

McCarthyismus sollten wir auch im Umgang mit der AfD vermeiden. Damit ich nicht falsch verstanden werde: Die AfD ist meiner Meinung nach eine große Gefahr für die Demokratie, deshalb bin ich dafür, sie mit allen rechtsstaatlich zulässigen Mitteln zu bekämpfen. Die Betonung liegt auf "rechtsstaatlich". Dazu gehört m.E. auch, das Verbot der Partei gemäß Artikel 21 Abs. 3 Grundgesetz oder die Verwirkung von Grundrechten für Einzelpersonen gemäß Artikel 18 Grundgesetz ernsthaft zu prüfen. Stichwort: wehrhafte Demokratie. Aber was Diakonie-Präsident Rüdiger Schuch ankündigt, schießt weit übers Ziel hinaus. "Wer die AfD aus Überzeugung wählt, kann nicht in der Diakonie arbeiten. Diese Leute können sich im Grunde auch nicht mehr zur Kirche zählen, denn das menschenfeindliche Weltbild der AfD widerspricht dem christlichen Menschenbild." [3]

Gewiss, kein Arbeitgeber muss dulden, wenn im Betrieb rassistische Propaganda gemacht wird oder sonstige verfassungsfeindliche Äußerungen fallen. Und im öffentlichen Dienst, bei dem die Beschäftigten einen Eid auf die Verfassung ablegen, kann sogar die bloße Mitgliedschaft in der AfD problematisch werden. Nämlich dann, wenn sie als "gesichert rechtsextremistisch" eingestuft wird. Das eine, der Eid aufs Grundgesetz, und das andere, verfassungsfeindliche Ansichten, schließen sich gegenseitig aus (insbesondere bei den Sicherheitsbehörden: Polizei, Bundeswehr, Nachrichtendienste, Justiz). Doch gilt das auch für AfD-Wähler? Das kollidiert m.E. mit dem Grundgesetz und dem Arbeitsrecht. Erstens darf - abgesehen von der vorangehenden Einschränkung - laut Grundgesetz jeder denken, was er will (vgl. Artikel 4 GG), und zweitens sind Wahlen geheim (vgl. Artikel 28 GG sowie Artikel 38 GG). Kein Arbeitnehmer muss offenbaren, welche Partei er wählt. Und kein Arbeitgeber ist berechtigt, diesbezüglich eine Gesinnungsprüfung einzuführen. Die von Schuch beabsichtigten Kündigungen sind daher unzulässig und dürften schon vor den Arbeitsgerichten scheitern.

Unternehmen sollten durchaus klarstellen, dass sie auf dem Fundament der Verfassung stehen, aber sie dürfen dabei nicht selbst das Fundament der Verfassung verlassen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie in der Hochzeit der RAF jede gesellschaftskritische Äußerung sogleich in den Geruch des Sympathisantentums geriet. Beispiel: Die SPD hält noch immer an der Vision des "demokratischen Sozialismus" fest, was ihr aktuelles Grundsatzprogramm aus dem Jahr 2007 belegt. Dass die politische Praxis der Sozialdemokratie seit jeher anders aussieht, ist kein Geheimnis. Doch wie dem auch sei, jedenfalls wurden damals selbst SPD-Mitglieder, die das Bekenntnis zum "demokratischen Sozialismus" ernst nahmen, von Konservativen als verkappte Kommunisten diffamiert. Die CDU entblödete sich 1976 nicht, mit der manichäisch anmutenden Wahlparole "Freiheit statt Sozialismus" anzutreten, Bundeskanzler war seinerzeit übrigens ein gewisser Helmut Schmidt ("wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen"). In aufgeheizten Zeiten wird selten differenziert, da mutiert berechtigte Vorsicht rasch zum paranoiden Verfolgungswahn. Motto (quasi die Mutter aller Ausreden): Wo gehobelt wird, fallen Späne.

Insofern ist die Idee, Arbeitnehmer der Diakonie für das Wählen der AfD mit Kündigung zu bestrafen, nicht mehr als eine höchst fragwürdige Schnapsidee. Sie ist politisch kontraproduktiv, weil sie es der AfD erlaubt, sich erneut als Opfer zu inszenieren. Sie ist obendrein verfassungswidrig und wird vor keinem Gericht Bestand haben. Ob sie irgendeinen AfD-Wähler überzeugt, ist ebenfalls zu bezweifeln, vielmehr dürfte das Ansinnen deren Gegnerschaft zum "System" eher noch verstärken. Wahrscheinlich ist sie sogar politisch kontraproduktiv, weil sich die Demokratie mit solch zweifelhaften Methoden selbst ad absurdum führt. Zu guter Letzt stellt sich unweigerlich die Frage, wo das Ganze endet. Sollen etwa auch der AfD zuneigende Chefs die SPD-, CDU- oder Grünen-Wähler unter ihren Beschäftigten vor die Tür setzen dürfen? Deshalb noch einmal: Wer das Gute will, kann dennoch das Falsche tun. Der Weg zur Hölle ist bekanntlich mit guten Vorsätzen gepflastert.

In der Auseinandersetzung mit den Rechten ist Folgendes notwendig: Erstens die überzeugende Entlarvung, so wie es beispielsweise die Journalisten von Correctiv in dem Artikel "Geheimplan gegen Deutschland" getan haben. Zweitens die juristisch kompromisslose Verfolgung von mutmaßlichen Straftaten, wie etwa beim gerade gestarteten "Reichsbürger"-Prozess. Drittens die ernsthafte Prüfung, ob man die AfD nicht verbieten oder wenigstens ausgewählten Repräsentanten der Partei das passive Wahlrecht entziehen kann. Das macht allerdings, viertens, die argumentative Auseinandersetzung mit noch erreichbaren AfD-Wählern keineswegs überflüssig. Wohlgemerkt, die ARGUMENTATIVE Auseinandersetzung, nicht die Drohung mit dem verfassungswidrigen Entzug der Existenzgrundlage.

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[1] Süddeutsche vom 07.02.2024, Printausgabe Seite 7
[2] taz vom 05.01.2024
[3] FAZ vom 30.04.2024

Nachtrag (06.05.2024):
Ronen Steinke weist in der Süddeutschen darauf hin, dass "die Parole 'From the river to the sea, Palestine will be free' Anfang November vom Bundesinnenministerium per ministerialer Verfügung zu einem Symbol der verbotenen Hamas erklärt wurde. Die Folge ist, dass die Parole nun als Kennzeichen einer terroristischen Organisation gilt - strafbar nach Paragraf 86a des Strafgesetzbuchs mit Geldstrafe oder bis zu drei Jahren Haft." [4] Staatsanwaltschaften ermitteln in diesem Zusammenhang aber auch wegen Volksverhetzung gemäß § 130 StGB. Letztere müsse jedoch einen Inlandsbezug aufweisen, sagen wiederum Anwälte, was beim Existenzrecht Israels allerdings nicht zutrifft. Offenbar ist das Ganze juristisch noch unklar. Das Bundesinnenministerium regt wohl nicht zuletzt aus diesem Grund an, den Straftatbestand der Volksverhetzung um die "Gefährdung auswärtiger Belange" zu erweitern - was immer diese schwammige Formulierung konkret heißen mag. Dann bliebe freilich das Gebot der Normenklarheit auf der Strecke, denn der Bürger dürfte sich kaum darüber im Klaren sein, was die "auswärtigen Belange" der Bundesrepublik sind und mit welcher Äußerung er sie gefährden könnte. Von der absehbar mehrdeutigen Auslegung der Gerichte ganz zu schweigen. Den Kreis dessen, was hierzulande noch gesagt werden darf, immer enger zu ziehen, halte ich im Sinne der Meinungsfreiheit generell für sehr bedenklich. Juristische Schnellschüsse, die willkürlich anmuten, ohnehin.

[4] Süddeutsche vom 05.05.2024